Wiedergelesen von Kathrin Chod

Gerhard Holtz-Baumert:
Alfons Zitterbacke hat wieder Ärger

Kinderbuchverlag, Berlin 1962, 155 S.

„Na, willst du nicht wieder mal etwas lesen?“

Mein Sohn, acht Jahre, räkelt sich auf der Couch und stiert in den Fernseher, als hätte er nichts gehört.

„Hallo, ich rede mit dir!“

Keine Antwort. Erst als ich den Fernseher leiser drehe, reagiert mein Herr Sohn: „Jetzt nicht, jetzt kommen doch die Schlümpfe. Und dann Bugs Bunny. Und dann die Simpsons. Und dann Alf. Und dann ...“, mein Sohn denkt kurz nach, „dann ,Eine schrecklich nette Familie‘.“ Ich mußte einsehen, der Nachmittag war verplant. Auf dem Bildschirm erscheint ein widerwärtig gut gelaunter Hase und läßt coole Sprüche ab. An der Miene meines lieben Kindes lese ich ab, daß ich gegen das blöde Langohr keine Chance habe. „Das ist die große bunte Bunny-Show und wir sind alle mit dabei“. Ja leider. Doch meine Zeit wird kommen ...

Kurz vor zwanzig Uhr, und mein Kind sollte sich eigentlich zu Bett begeben: „Mama, wir wollten doch was lesen.“

Es ist soweit. Mein Kind lechzt nach Literatur. Den Gedanken, daß hiermit nur ein raffiniert getarnter Anschlag auf die für acht Uhr festgesetzte Schlafenszeit unternommen wird, schiebe ich schnell beiseite. Jetzt bloß ein Buch her, das nicht wieder den Unmut meines Nachwuchses hervorruft. Nur nicht wieder das gefürchtete Och-ist-das-langweilig. Ein Griff in das gutsortierte Bücherregal, und da hatte ich es. Auf der letzten Seite stand „Der Kinderbuchverlag Berlin“ und „DDR 7,80 M“ und auf der ersten: Alfons Zitterbacke. Ein Relikt aus meinen Kindertagen. „Wie wärs mit Alfons Zitterbacke?“ Mein Sohn war einverstanden, der Titel gefiel ihm. Kein Kind heißt jetzt noch Alfons. So hieß allerdings auch niemand zu meiner Schulzeit, als ich das Buch las.

Es war gerade die Hoch-Zeit der Mandys und Ronnys. Da klagte Alfons Zitterbacke:„Ich habe immer Ärger mit meinem Namen.“ Ja, wer hatte das nicht. Auch wenn man statt Alfons Zitterbacke nun wie mein Nachbar Camillo Sandmann hieß.

Alfons war anders als die Helden, die wir sonst so aus den Kinderbüchern kannten. Die frechen Oskars und Ottokars sollten erst später kommen. Was jetzt so umging, waren kleine Helden, die zwar nicht den Marschallstab im Tornister, aber stets ein sozialistisches Menschenbild vor Augen hatten. Die waren so gut und so tapfer und damit so unerreichbar. Und Alfons? Ein Pechvogel wie du und ich. Der jeden Fettnapf findet und reintritt. Der sich nicht zu melden traut, weil er im Klassenbuch ganz hinten steht. Der keine Bauchwelle am Reck schafft und vor dem Kopfsprung Angst hat. Alfons rennt in einen Lampenladen, um ein Rezept zu holen, hieß das Ding, wo er hinwollte, nicht „Ampelatorium“. Er bekommt gute Ratschläge, die man selbst oft genug gehört hatte: „Ich sage dir nur eins, Alfi, sei höflich.“ Zu alledem waren Zitterbackes Erlebnisse so komisch beschrieben, daß es ganz einfach Spaß machte, sie zu lesen.

Der Autor Gerhard Holtz-Baumert wurde schnell in der ganzen DDR bekannt, und Alfons Zitterbacke erlangte das, was man heute Kultstatus nennt. Eine Schallplattenaufnahme folgte und ein Spielfilm. Erstere war gelungen, der Film hatte leider nicht den Witz der Vorlage. Für Holtz-Baumert war die schnelle Berühmtheit sicher nicht nur von Vorteil. Der Verfasser von Alfons Zitterbacke hatte jetzt gefälligst immer komische Bücher zu schreiben. Und die Meßlatte hierfür war von ihm selbst recht hoch gelegt. Ich erinnere mich, daß ich enttäuscht war, als ich Trampen nach Norden und spätere Bücher von Holtz-Baumert las. Keines kam an Alfons Zitterbacke heran. So blieb Holtz-Baumert für mich auch immer nur der Vater von Alfons Zitterbacke. Als mir vor einigen Jahren jemand erzählte, daß Holtz-Baumert sich als Verbandsfunktionär nicht gerade fein gegenüber anderen Schriftstellern verhalten hatte, wollte ich das gar nicht recht glauben. Nicht von jemandem, der sich Alfons Zitterbacke ausgedacht hatte.

Meinem Sohn konnte das auch alles egal sein. Die Geschichten von Alfons Zitterbacke gefallen ihm sofort. Sei es nun „Was mein Wellensittich Putzi und ich ertragen mußten“ oder „Was mir mein Aprilscherz einbrachte“, mein Kind zeigt sich begeistert und verlangt nach mehr. Am nächsten Tag das gleiche. „Wie ich zu meinem ersten Kopfsprung kam“, muß ich gleich zweimal vorlesen. „Siehst du, der kann auch keinen Kopfsprung!“ Offensichtliche Erleichterung. Ich denke mir, daß es dem Autor wohl gelungen war, das einzufangen, was Kindern eben so passiert. Das Buch hatte eine an keine Zeit gebundene Gültigkeit erreicht. Was DDR-spezifisch ist, schluckt mein Sohn ohne größere Gegenfragen. Ob es nun die dreißig-Pfennig-für-eine-Fahrt in der Gespensterbahngeschichte sind oder der Ruf Herr-Ober-das-Beschwerdebuch in „Als ich ein falscher Betrunkener war“.

Beim Vorlesen von „Was mir mit Makkaroni und Tomaten passierte“, geschieht es dann doch: „Wir machten mit der Pioniergruppe eine Wochenendfahrt ... “

„Mama, was ist eine Pioniergruppe?“

„Später, jetzt lese ich erst mal vor.“

„ Hm, gut.“ Ich komme auch noch über die Stelle hinweg, in der die Verkäuferin sagt: „Aber Junge, zu Pfingsten gibt's doch keine Tomaten“. Doch nun, Zitterbacke und sein Freund hatten gerade die Makkaroni mit drei Pfund Salz gewürzt: „,Was gibt es denn?‘ fragte uns Harry, der Pionierleiter ...“

„Mama, jetzt sag mir endlich mal, was Pioniere sind!“ Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muß den Wissensdurst meines Kindes löschen. „Also, Pioniere waren eben fast alle Kinder in der DDR.“ Wie gibt man in den paar Minuten, die mir mein Kind normalerweise zur Beantwortung solcher Fragen Zeit läßt, eine sowohl ihn befriedigende als auch historisch gültige Erklärung? Mein Sohn ist glücklicherweise dieses Mal zufrieden und im übrigen ganz schön müde.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
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