Wiedergelesen von Helmut Fickelscherer

Richard Groß: Der Mann aus dem anderen Jahrtausend

Verlag Neues Leben, Berlin 1961, 304 S.

Richard Groß, 1921 in Königsberg geboren, 1968 in Berlin gestorben, hat neben mehreren Romanen, Erzählungen und Hörspielen einen einzigen SF-Roman geschrieben, der Anfang der sechziger Jahre viele Leser fand und auch heutzutage bei den Science-fiction-Fans nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. Der Grund für diese Beliebtheit ist wohl darin zu suchen, daß er nicht nur Raumfahrteuphorie und die damals übliche „Interplanetare Revolution“ bedient, sondern einen Titelhelden präsentiert, der tief in Konflikte verstrickt ist und sich von den plakativen Gestalten, die die Science-fiction jener Jahre bevölkerten, wohltuend abhebt.

Dieser Mann aus dem anderen Jahrtausend, Sidney Ernest Mordgen, Jahrgang 1964, ist der Sohn General Mordgens (nomen est omen?), des Anführers einer US-amerikanischen kapitalistischen Restclique, die 1990, 3500 Menschen umfassend, mit einer Raumflotte die Erde verließ, als sich hier die klassenlose Gesellschaft überall siegreich durchsetzte. Diese „Hasardeure“ brachen, in Unterkühlungsanlagen schlafend, zu dem sich bei der Sonne Epsilon-Eridanus befindlichen Planeten Nowi Swesda auf (man ist immer versucht, diesen „Neuen Stern“ mit Nowaja Swesda zu bezeichnen, aber die Schöpfer der zukünftigen „Wissenschaftlichen Weltsprache“ hatten anscheinend der russischen Grammatik keine Beachtung geschenkt). Da General Mordgen und seine Helfershelfer beim Abschied „aus Rache“ die Erde mit Plutoniumbomben zerstören wollten, kam es zu Kämpfen, die das verhinderten. Bei diesen Kämpfen wurde der Beladungslift für eines der Raumschiffe zerstört, eine Hibernationskammer mit einem „tiefgekühlten Kapitalisten“ mußte zurückgelassen werden und blieb fast 200 Jahre unentdeckt. Nun aber, man schreibt unterdessen das Jahr 2187 macht ein durchdringender Alarmton darauf aufmerksam, daß sich mit dieser Kühlkiste bald etwas tun wird. Sie wird geborgen und ins „Medizinische Institut für Kosmonautik“, Alma-Ata, gebracht, wo ihr besagter Sidney Mordgen entsteigt, ein gutaussehender, intelligenter junger Mann im Alter von 26 Jahren, dennoch aus dem vergangenen Jahrtausend stammend.

Er muß sich nun in der Zukunft zurechtfinden, fühlt sich dabei ziemlich entwurzelt, verschließt sich trotzdem aber nicht den neuen gesellschaftlichen Entwicklungen, obwohl ihn manchmal die neuen Umgangsformen in ihrer absoluten Offenheit und psychologischen Analysesucht schockieren. Gern möchte er sich in die Gemeinschaft integrieren, zumal er sich in seine Betreuerin Lys Karmen, eine deutsche Ärztin für Kosmonautische Medizin, verliebt hat, aber ihm wird viel Mißtrauen entgegengebracht. Sidney Mordgen war Oberst der US-Air-Force und als Sohn des Oberbefehlshabers - um einen adäquaten Ausdruck zu gebrauchen - nun wahrlich „systemnah“. Was wußte er von den Zerstörungsplänen seines Vaters? Inwieweit war er selbst beteiligt? Gehört er eigentlich vor ein Gericht, statt daß man ihn mit offenen Armen empfängt?

Sidney Mordgen bestreitet Schuldverstrickungen, aufgeschlossen tritt er seinen Mitmenschen gegenüber, und allmählich setzen sich die Leute durch, die ihm vertrauen, obwohl ein englischer Historiker unablässig in alten amerikanischen Archiven nach belastendem Material sucht, das Mordgen überführen soll.

Die Tatsache, daß Mordgens Anabiosebox so gut funktioniert hat, wirft nun ein völlig anderes Licht auf das Raumfahrtunternehmen der letzten Kapitalisten. Hatte man bisher geglaubt, die Hasardeure seien im All verdorben und gestorben, zieht man nun die Möglichkeit in Betracht, sie hätten ihr Ziel doch erreicht. Die Überlegungen sind um so wichtiger, als man kurz vor einer Expedition zu ebendiesem Planeten Nowi Swesda steht. Eine Flotte von zehn Raumschiffen und mehreren Transportraketen wird dorthin aufbrechen und nun aufgrund der neuen Lage entsprechend bewaffnet. Auch Sidney Mordgen ist an Bord eines der Raumschiffe, denn erstens würde sonst Lys Karmen, die ihren Schützling nicht allein zurücklassen möchte, nicht mitfliegen, und zweitens wäre seine Anwesenheit vielleicht von Nutzen, falls man doch auf Nachkommen der Hasardeure stoßen würde.

Zwölf Jahre dauert der Flug der 2500 Planetenerkunder, und die lange Reisezeit verbringt man vor allem damit, Sidney Mordgen erneut zu verdächtigen, denn noch kurz vor dem Start, die Luken waren allerdings schon geschlossen, hatte der eifrige englische Historiker alte militaristische Aufsätze des ehemaligen Obersts aufgespürt - wie z. B. „Massierter Einsatz der Kobaltbombe, dessen Wirkung und Folgen sowie Schutzmaßnahmen gegen seine Einflüsse auf die angreifenden Truppen“. Der Pole Lewschinski vom Komitee für Sicherheit an Bord der Raumschiffe ist besonders wachsam, und der Expeditionsleiter beschließt u. a.: „Sein (also Mordgens) täglicher Umgang, seine Tätigkeit, seine Lektüre werden beobachtet, unserem Bordkomitee für Sicherheit monatlich bekanntgegeben und den Psychiatern zur Begutachtung vorgelegt.“ Ein Besatzungsmitglied wird offiziell beauftragt, Sidney Mordgen zu überwachen, ein weiteres tut dies freiwillig, um ihm zu helfen. Trotzdem - man hat es schon lange kommen sehen - erwidert nun Lys Karmen die Liebe des unsicheren Kantonisten: „Die Frauen unserer Zeit“, sagt sie, „verlieben sich auch. Das wird ewig so sein. Wir begehen vielleicht weniger Torheiten als früher unsere Geschlechtsgenossinnen. Aber einen richtigen Mann wollen wir auch heute noch haben.“ Und das Verlöbnis der beiden wird „in den Tanz- und Kulturräumen der Rakete ‚Bombay‘ gefeiert“ ...

Die Befürchtungen bewahrheiten sich: Auf Nowi Swesda hat sich ein Terrorregime der ewig Gestrigen etabliert, die die sehr menschenähnlichen swesdianischen Ureinwohner unterjochen. Der Mordgen-Clan läßt sich in überall errichteten Tempeln göttliche Ehren erweisen, und der Clan-Älteste, der „lebende Gott“, verhängt während der „Gerichtszeit“ Todesurteile über die Bewohner ganzer Dörfer. Gern möchte er die irdische Raumflotte auf den Planeten locken, um sich die Technik anzueignen und um mit den Kosmonauten „das Blut der langsam degenerierenden, absterbenden Kaste auffrischen zu können“. Besonders ist ihm an Sidney Mordgen gelegen, dem Sohn des „Großen Gottes der ersten Sonne“. Und so wird Sidney Mordgen sofort vereinnahmt, was einigen seiner Gefährten verdächtig erscheint. Doch er ist kein Verräter, vielmehr ist er entsetzt, daß die von der Erde Geflohenen in all den Jahren nichts dazugelernt haben. Heimlich nimmt er Kontakt mit swesdianischen Revolutionären auf, wird dabei ertappt und soll hingerichtet werden. Im letzten Moment wird er befreit und berät als ehemaliger Oberst anschließend den swesdianischen Revolutionsstab.

In Zusammenarbeit mit den irdischen Raumschiffbesatzungen nimmt die Revolutionsarmee die führenden Usurpatoren fest und stellt sie vor Gericht. Die gutmütigen Swesdianer fordern keine Todesstrafe, werden aber von den Großen Brüdern aus den Raumschiffen belehrt, das sei Milde am falschen Platze und gefährlich. Also finden Hinrichtungen statt, und die übrigen „Handlanger der herrschenden Schichten ... sollten einer nützlichen Arbeit zugeführt werden und sich dort bis an ihr Lebensende bewähren“.

Es gibt also eitel Freude auf Nowi Swesda, und sogar die Figuren der Buchillustrationen von Werner Ruhner, die doch gewohntermaßen sehr ernsthaft dreinschauen (in der Zukunft gibt es nichts zu lachen?), ringen sich ein Lächeln ab.

Nach Erforschung des Planeten und allgemeinen Freundschaftsbekundungen wird die Heimreise angetreten, wobei auch einige Swesdianer mit an Bord gehen. Sidney Mordgen ist nun voll in das Kollektiv integriert, der mißtrauische Lewschinski entschuldigt sich bei ihm und tritt von seiner Funktion zurück. Doch er bleibt wachsam, überprüft die Werte der Flugbahn, aber „der Kurs zur Erde stimmte“.

Richard Groß' Roman ist, wenn man sich in den etwas kargen Stil eingelesen hat, durchaus ein unterhaltsames Zeitzeugnis und vielleicht auch mehr als das. In einer Epoche des kältesten Krieges (1961 wurde die Berliner Mauer gebaut) befaßt sich Groß mit dem Problem, wann Mißtrauen angebracht ist und wann nicht, und er schildert Folgen der Überwachung für den Betroffenen, drohende Persönlicheitszerstörung durch Vertrauensentzug. Auch für die zukünftigen Menschen in einer klassenlosen, vernünftigen Gesellschaft ohne materielle Sorgen sind hierbei Konflikte nicht ausgeschlossen. „Es ist schwer, aufrecht zu gehen ...“, sagt der Expeditionsleiter.

Ein Autor, der die Handlung seines SF-Romans in naher Zukunft ansiedelt und dabei Gesellschaftsmodelle aufbaut, begibt sich auf dünnes Eis, und es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, daß gerade in dem Jahr, in dem er die letzten US-Kapitalisten ins All flüchten läßt, der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland erfolgte, der Zerfall des sozialistischen Lagers fast abgeschlossen war. Aber das sollten wir, die wir auch von so mancher Entwicklung überrascht worden sind, ihm nachsehen und uns an den vielen originellen Details seines Romans erfreuen: An Fenstern, die sich durch einen Pfiff schließen lassen, an exotischen Gerichten und Getränken, an neuen Tänzen, sicher dem Lipsi vergleichbar, an vollautomatischen Versorgungseinrichtungen und utopischen Verkehrssystemen, die gewaltige Mittel verschlungen haben müssen (nur gut, daß es kein Geld mehr gibt!), und an Maisfeldern bis hin zum Horizont bewässerter Wüsten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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