Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist auch für den versierten Leser eine immerwährende Herausforderung. Schon mancher hat einmal das nahezu fünftausendseitige Opus angefangen, dann wieder beiseite gelegt, wieder darin gelesen, oder, wenn anderes im Leben dazwischenkam, vergessen. Die verschlungenen Wege in den Büchern von Marcel Proust warten auf Leser, zu allen Zeiten. Auch kann es zu einem erfreulich-anregenden Ereignis werden, einmal das Buch eines Mannes zu lesen, der Proust-Leser aus Passion geworden ist. Olof Lagercrantz, der bereits Bücher über Dantes Göttliche Komödie, über Strindberg, Nelly Sachs und Joseph Conrad geschrieben hat, gibt nun Auskunft über seine Proust-Lektüre. Er hat mehrere Jahre fast nichts anderes als Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gelesen, ist den Erzählfäden im Labyrinth der Verwandlungen minutiös gefolgt, und hat aus seinem Erlebnis ein anschaulich-lebendiges Buch gemacht. Prousts Bücher wurden für den Leser Olof Lagercrantz zu einem Zuhause, haben ihm Sicherheit geschenkt. Mehr noch, diese Lektüre beeinflußte auch sein Leben: Die Menschen, denen ich begegnet bin, habe ich in Beziehung zu den Gestalten des Romans gesehen. Die Gegenwart mit ihren Umwälzungen war, so schien es mir, klarer für mich, als ich Proust an meiner Seite hatte. Jetzt, wo ich ihn verlasse, fühle ich mich wie ein verirrtes Kind.
Doch das verirrte Kind ist nicht ganz so wörtlich zu nehmen. Zum einen hat er sein Lese-Erlebnis, seine Reise ins Innere dieser sieben Bücher wiederum an Leser, die Proust kennen oder noch lesen werden, weitergegeben. Zum anderen wird er selbst immer wieder zu diesen eigensinnigem Poeten greifen, der so überraschend wenig Handlung gibt, aber dafür Bilder, Situationen und Metaphern wie kein anderer Erzähler.
Olof Lagercrantz erzählt in siebzehn Kapiteln von Proust und von dessen Erzähler, der mit seinen Erinnerungen dem Leser ungeahnte Erfahrungen, nicht zuletzt mit sich selbst, verschafft. Beschrieben werden Vorder- und Hintergründe der großen Parallelszenen im siebenteiligen Roman. Marcel Proust, kein Freund großer Handlungen, mißtraute auch Entwicklungen. Daß er den Leser, der es bei ihm aushält, dennoch in Spannung zu versetzen vermag, hat viele Gründe. Lagercrantz sucht einige zu ergründen. So ist bei Proust ein Gegenstand, der nicht mit etwas anderem verbunden werden kann, ein toter Gegenstand. Und der Leser, der diese Eigentümlichkeit des lauernden, vergleichenden und assoziierenden Erzählens begreift, wird seinerseits darauf achten, wo schon wieder eine neue, kunstvoll ersonnene Parallele sich auftut.
So kann eine Figur des Romans ihre Entsprechung in einem gotischen Relief haben, der Erzähler kann eine Galavorstellung in der Oper mit einem Arragement in einer Grotte vergleichen, um dabei seine eigene Zurückgesetztheit in der Welt zu signalisieren. Olof Lagercrantz spielt gern auf den Umstand an, daß Proust homosexueller Halbjude war. Die Homosexualität, meint der Autor, sei überall im Roman gegenwärtig, mit ihr schaffe Proust ein verbindendes Band zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten ... Dienstboten, Kellner und Ladengehilfen kommen in intime Verbindung mit Herzogen und Prinzen und tauschen Frechheiten, Flüche und Blasphemien aus. Eine besonders erstaunliche Entdeckung ist der Urgrund eines Septetts, das im Roman seine Erstaufführung erfährt, den Erzähler aber sehr stark an eine schon bekannte Sonate des Komponisten erinnert. Doch das Septett verbirgt und zeigt noch mehr. Es ist ein Fingerzeig zum siebenteiligen Roman selbst, und im Septett erscheinen Details aus dem Leben des verblüfften Erzählers wieder.
Die Großmutter des Erzählers nennt Lagercrantz ein Sinnbild selbstverleugnender Aufopferung und Zärtlichkeit. Der Leser wäre erstickt an soviel Tugend, wäre sie nicht an einem Schlaganfall gestorben. Ihr Tod ist die einzige ausführliche Todesszene des ganzen Romans, und Lagercrantz macht die sehr treffliche Beobachtung, daß Proust gerade bei dieser Gelegenheit seine sarkastische Komik ausspielt. Proust verarbeitet dabei Erlebtes, hatte er doch seit seiner frühesten Jugend Gelegenheit, Arztattitüden zu studieren, denn der Bekanntenkreis des Vaters bestand hauptsächlich aus Medizinern, und er selbst war von Kindheit an den Bemühungen der Ärzteschaft ausgesetzt.
Olof Lagercrantz spürt nicht nur die ungezählten und sehr kunstvoll ausgespielten Parallelsituationen innerhalb des Romans auf. Er kommt immer wieder, geradezu zwangsläufig, weil die Tatsachen, Lebenszeugnisse und Briefe Prousts vor allem dies nahelegen, auf die Parallelen zwischen der Biographie Prousts und seinem Werk zurück. Solche inzwischen berühmt-legendären Situationen sind das Gespräch mit der Weißdornhecke, Marcel Proust wartet als Kind auf den Gute-Nacht-Kuß der Mutter, der Jüngling taucht sein Sandtörtchen in eine Tasse Tee.
Frappierend auch ein anderer Bereich der phantastischen Metaphern. In Dantes Göttlicher Komödie hindern der Leopard, der Löwe und die Wölfin den Helden die sonnenbeschienene Höhe zu erreichen. Er muß Umwege nehmen. Und so wurde der Gang durch Hölle und Fegefeuer zum Anlaß der Dichtung. Auch Proust löst, nach Meinung des Autors, sein Problem, das auf die Begriffe Homosexualität, Judentum und Mutter gegründet ist, in der Art Dantes. Was er nicht öffentlich und frei bekennt, transportiert er kunstreich auf Umwegen durch die Weiten und Tiefen des Romans. So werde Prousts Leben aufgelöst und fragmentarisiert, und: Die Fragmente schlagen Wurzeln und wachsen. Auf seiner inneren Bühne entstehen neue geträumte Gestalten.
Vom Glück des Lesens ist ein brillantes Konzentrat intensiver Leseerfahrungen. Einer Erfahrung, die immer auch das Erlebnis des Lesers mit einschließt, der sich als Lesender selbst erfährt. Denn bei Proust hat er die Einsicht gewonnen, daß diesem Erzähler nichts gleichgültig ist.