Literaturstätten von Klaus M. Fiedler

Kästner & Co.

Das Lesecafé Mittendrin

Charlotte van der Meer liest Kästner. Geschickt setzt sie die Pointen, macht hin und wieder eine kleine Pause, um den Zuhörern Zeit zum Nach-Denken zu geben, und fährt dann mit sichtlichem Vergnügen an den spritzig-intelligenten Texten in ihrem Vortrag fort. Die gut zwei Dutzend Gäste in dem schlichten Raum teilen das Vergnügen an den hintersinnigen Wortspielen und klugen Alltagsbeobachtungen des Emil- und Doppelte-Lottchen-Erfinders. Rasch sind die anderthalb Stunden vorbei, doch kaum einer verläßt den Raum. Man beginnt zu plauschen über dies und das und auch über die nächste Begegnung. In einer Woche. Dann sind sie alle wieder hier im Lesecafé Mittendrin in der Bornholmer Straße. Die Mitglieder des „Clubs 50 Plus“.

Im Kulturverein Prenzlauer Berg e.V. ist Hannelore Rasper für die Seniorenbetreuung zuständig. „Eine Aufgabe, wie ich sie mir immer gewünscht habe“, erzählt sie. Man müsse sich doch um die älteren Mitmenschen kümmern, dürfe sie nicht allein lassen in ihren vier Wänden. „Und wir Jüngeren“, fährt sie fort, „sollten von ihren Erfahrungen, von ihrem Wissen profitieren. Es muß weitergereicht werden an die nächsten Generationen.“ Der „Club 50 Plus“ mit seinen gut vierzig Mitgliedern sei eine solche Möglichkeit, meint Hannelore Rasper.

Mindestens einmal in der Woche treffen sich die Herren und Damen, die - der Name sagt es - die Fünfzig längst hinter sich gelassen haben, um zu lesen, um Vorträgen zu lauschen (Elfriede Brüning oder Gisela Steineckert waren schon hier), um zu malen oder zu zeichen, zu klöppeln oder auch selbst zu schreiben. Anfangs wurde die Idee, zur Feder zu greifen und eigene Erlebnisse oder Geschichten zu Papier zu bringen, skeptisch aufgenommen. Keiner hatte sich zuvor literarisch versucht, von den Schulaufsätzen Jahrzehnte zurück oder den Briefen an Verwandte oder Bekannte einmal abgesehen. Doch irgendwie klappte es dann. „Es mußten vor allem die Hemmungen, die Selbstzweifel genommen“, erinnert sich Hannelore Rasper, „die Scheu abgebaut werden.“ Locker geht alles inzwischen zu; Fingerübungen, spontane Sätze, kleine Verse und Wortspiele und erste Texte. Das Wichtigste für den bejahrten Dichter-Nachwuchs: Es muß Spaß machen; Spaß am Wort, Spaß am Schreiben. Man sitzt zwei, drei Stunden zusammen, schreibt und liest sich dann gegenseitig vor. Einen „Rückblick auf's eigene Leben“, nennt es Charlotte van der Meer, mit 78 Jahren längst nicht das älteste Mitglied des „Clubs“; den Kästner-Vortrag übrigens, ein klug aufgebautes Porträt nur aus Kästner-Zitaten, hat sie selbst erarbeitet. Doch diese regelmäßigen Schreibübungen in der Gruppe seien für sie auch ein gutes „Training, um nicht das Gehirn und das Handgelenk einrosten zu lassen“.

Anfangs blieben die Senioren aus dem Lesecafé Mittendrin mit ihren kleinen Werken nur unter sich. „Aber das Geschriebene sollte auf keinen Fall im Papierkorb landen“, umreißt Hannelore Rasper das Wachsen des Laien-Dichtergartens, in dem sich immer dienstags rund ein Dutzend Senioren trifft. Man müsse diese Geschichten für die Nachwelt erhalten. Und so wurde der Gedanke bald Tat: In diesem Jahr 1997 erschien der dritte Literatur-Kalender des „Clubs 50 Plus“. Auf den zwölf Seiten sind kleine Geschichten, Gedichte, Märchen in grafisch ansprechender Form vereint. „Etwas Bleibendes“ umschreibt es Hannelore Rasper mit berechtigtem Stolz. Und sie kann auch ein weiteres Produkt der Gruppe vorweisen. Aus einer gemeinsamen Lesung des „Clubs 50 Plus“ vom Kulturverein Prenzlauer Berg e.V. und der Gruppe „Erzählen und Schreiben“ aus dem Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V. wurde eine Broschüre zusammengestellt, die sich „Geschichten aus einem Jahrhundert“ nennt. Hier kommen Menschen zu Wort, deren Kindheit einst in einem gemeinsamen Deutschland begann, denen auch noch schreckliche Kriegserlebnisse gemeinsam waren, deren Wege sich dann aber in Ost und West trennten. „Viel Gemeinsames, aber auch noch viel Trennendes“ hat Frau Rasper bei diesen Geschichten beobachtet. „Doch nur, wenn wir uns unsere Geschichten erzählen, immer wieder, und auch auf die Geschichten des anderen hören, können wir Vorbehalte abbauen.“

Die Abenddämmerung sickert in den Raum. Die ersten Besucher machen sich auf den Heimweg. Dabei auch ein mittelgroßer Mann mit schlohweißem Haar und gerader Haltung. „Unser ältestes Mitglied“ stellt Hannelore Rasper ihn vor. August Zabian ist - 98 Jahre alt und „Stammgast hier im Club“, wie er sagt. Sein Leben sei, seit seine Frau gestorben ist, „sehr langweilig“, er säubere selbst noch seine Wohnung, und „mein Balkon mit den Geranien ist im Sommer der schönste in der Straße“. Die Lesestunden im Café Mittendrin bringen, wie er zugibt, „Abwechslung in mein Leben“. Ein schönes Schlußwort.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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