Eine Rezension von Björn Berg

Schlimm sterben?

Sherwin B. Nuland: Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?
Kindler Verlag, München 1994, 400 S.

Es wird Schindluder getrieben mit dem Sterben. Auf Leinwand und Bühne, im Buch wie im Leben. Weil wir schlecht mit dem Sterben umgehen, leben wir schlecht. Wir tun so, als seien wir tausend Jahre da, obwohl unser Dasein nur wenige Jahrzehnte währt. Täglich im Bewußtsein des Todes zu leben würde bedeuten, täglich bewußter zu leben. Der Tod wäre dann nicht die Tragödie. Er wäre Teil des Lebens. In dem wäre das Sterben nicht so schrecklich, wie es schrecklich gemacht wird.

„Niederschmetternd“ nennt der Arzt Sherwin B. Nuland das Sterben. Nicht den Tod. Der Professor der Yale University brachte zu Papier, was ihm an Niederschmetterndem in Familie und Praxis widerfuhr. Nuland ist nicht genötigt, mit geheucheltem Mitleid zu handeln. Spricht er darüber, „Wie wir sterben“, spricht er von Erlebnissen, die zu Erfahrungen wurden. Der Mediziner weiß, daß nur weiß, wer fühlt. Gefühle, die zu den Lebensgeschichten gehören, haben Vorrang in den Schilderungen des Autors vom Sterben. Sterbezeit ist Gefühlszeit, ist starke, bestärkende Zeit bestärkender, starker gefühlsmäßiger Bindungen und Beziehungen. Für den lebens-sterbens-erfahrenen Arzt ist der Sterbende fühlender und gescheiter, der gescheitere Fühlende. Seine Sterbens-Lebens-Signale sind leise. Deshalb werden sie von den eiligen Lebenden kaum wahrgenommen. Die Unfähigkeiten der Agilen, Dynamischen, Vorwärtsdrängenden und Verdrängenden machen für alle schwer, was alle für sich nicht schwer wollen: das Sterben. Der fühlend-mitfühlende Nuland erklärt den Tod nicht zum Feind des Lebens. Der Feind des Lebens heißt Krankheit. Der Krimi jeden Lebens ist der lebenslange Kampf gegen Krankheit. Der so denkende und dementsprechend konkret und konsequent handelnde Arzt scheut die ständige Korrespondenz mit dem Sterben nicht. Er teilt nicht die Sucht seiner Kollegen, Leben um des Lebens willen zu halten. Er kennt die Miseren und Mängel der Mediziner, denen der Respekt vor dem Sterben abhanden gekommen ist. Er mißbilligt die Haltung der Mediziner, die handeln, als würden sie den Tod überwinden.

Sherwin B. Nulands Schrift ist klüger, redlicher, persönlicher als andere, weil er nicht über das Sterben, sondern vom Sterben spricht. Er verzichtet nicht darauf, Fall-Beispiele zu zitieren. Er nutzte diese Methode der Wissensvermittlung und -verbreitung, um soviel wie möglich von der Lebensgeschichte zu berichten, die eine Sterbensgeschichte erst verständlich macht. Sich dem Sterben zu stellen bedeutet für Nuland, sich vorrangig um das „lange Vorstadium des Sterbens“ zu kümmern. Der Autor wird zum Erzähler, wenn er schildert, wie die Lebenskraft seiner Großmutter versiegte. Die autobiographischen Äußerungen fassen am direktesten und deutlichsten zusammen, was dem Arzt wichtiger wurde als alle Fachkenntnisse. Es ist die Lebenskenntnis, die zum Bekenntnis führt, daß jedes Sterben so persönlich ist wie die Biographie. Das zu wissen und zu berücksichtigen heißt, wie der Autor sagt, „das Sterben zu entmythologisieren“. Heißt auch, das Sterben eine Erfahrung sein zu lassen, die alle Menschen miteinander verbindet. Das gute, große Gefühl des Miteinanders schürt Nuland mit jeder Seite seines Buches. Indem er dem Sterben die Anonymität nimmt, mindert er die Ängste vor dem Sterben. „Ein Ende in Würde?“, wie der Untertitel fragt, wird möglich, wenn mit Würde, also mit Respekt vor dem Ende, mit der Respektierung endenden Lebens Leben beschlossen wird. Nuland nennt das Sterben beim Namen. Er bannt und verbannt es nicht. Sterben ist nichts Schandbares. Schandbar ist, wie wir schlimmem Sterben Vorschub leisten. Sherwin B. Nuland treibt mit dem Sterben kein Schindluder.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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