Eine Annotation von Bernhard Meyer
Kapferer, Jean-Noel:
Gerüchte
Das älteste Massenmedium der Welt. Aus dem
Französischen von U. Kunzmann.
Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1996, 359 S.

„In Rouen beschuldigt Ende 1966 das Gerücht ein sehr bekanntes Konfektionsgeschäft, eine Deckadresse für den Mädchenhandel zu sein. Es kommt zu einer zunehmenden Zahl von telefonischen Drohungen.“(S. 7) Alle Dementis können die Schließung des Geschäfts nicht verhindern - ein Gerücht und seine Folgen. An diesem und zahllosen anderen Gerüchten versucht der Autor, als Medienexperte, in einer Mischung von wissenschaftlicher Untersuchung und lockerem Erzählstil einem für das Zusammenleben der Menschen typischen Phänomen auf die Spur zu kommen. Er wendet sich bewußt nur der Gegenwart zu und blendet Rückblicke auf „berühmte Gerüchte“ in der Geschichte aus.

Gerüchte - jeder kennt sie, keiner weiß so genau, wo sie im Einzelfall herkommen, viele tragen zu ihrer Verbreitung bei, sind fasziniert. Der „Buschfunk“ greift sie auf, wo immer sich Gelegenheit bietet. Inzwischen gibt es mehr oder weniger zutreffende Definitionen und auch Bonmots: „Das Gerücht ist ein anonymer Brief, den jeder völlig ungestraft schreiben kann.“ (S. 68) Es braucht zu seiner Geburt wenig, nur irgendeinen Anlaß, einen Mund und viele Ohren. Eine beliebte Quelle sind aufgedeckte Geheimnisse, Indiskretionen, Interna von Prominenten, die oftmals Unruhe verbreiten. Als „spontane, unaufgeforderte Wortmeldung“ (S. 26) dienen sie häufig oppositionellen Richtungen und stellen Autoritäten in Frage. Dann sind sie störend, weil sie von der Macht nicht kontrolliert werden können. Sie sind ein zuweilen und von manchem gern gesehener, von anderen verdammter Schwarzmarkt der Information. Wie es auch immer um den Wahrheitsgehalt eines Gerüchts bestellt sein mag, die Menschen glauben stets an einen „wahren Kern“. Und die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gerücht Wahres und Richtiges verbereitet, nimmt in unserer mediendominierten Gesellschaft zu, denn: „Der Bereich des Glaubhaften dehnt sich immer weiter aus. Was ist heute noch unglaublich?“ (S. 88)

Gleich im Vorwort verkündet der Autor seine Grundthese, wonach Gerüchte keineswegs mysteriös sind, sondern einer zwingenden Logik gehorchen, deren Mechanismus sich aufklären lasse. (S. 9) Dieser Prämisse geht der Autor konsequent nach und erläutert, wie Gerüchte entstehen, warum an sie geglaubt wird, wer die Beteiligten sind und welche Funktion sie haben können. Hier lüftet Kapferer ein wenig den Schleier, wenn er auf die moralischen, soziologischen oder gar die politischen Aspekte zu sprechen kommt. Jedes Thema hat seinen Abnehmerkreis, Medien nutzen dies geschickt. (S. 78) Zu den Besonderheiten des Gerüchts gehört, daß es im Zusmmenhang mit Beweisen weitergegeben wird. Dies soll ihm eine sichere Glaubwürdigkeit verleihen. Und der Autor verfolgt, warum so viele Menschen Gerüchten glauben wollen, ja sogar ein Glaubensverlangen vorliegt. (S. 103)

Die gelungene Rundumbetrachtung spart natürlich das Thema „Frauen und Gerüchte“ nicht aus, grenzt es von Klatschgeschichten, Gerede, Weibergeschwätz, Anekdoten und Legenden wohlweislich ab. Erstaunlich des Autors Feststellung, daß Intellektuelle genauso auf Gerüchte fliegen wie andere Bevölkerungsgruppen. Stars und Gerüchte unterliegen ebenso seiner Untersuchung wie das Gerücht in der Politik. Schließlich erfolgt eine „Typisierung der Gerüchte“(S. 324) und werden Hinweise zu ihrer Bekämpfung gegeben, was jedoch ein aussichtsloser Kampf mit Windmühlenflügeln zu sein scheint. Tröstlich eine Erkenntnis des Autors, die da lautet: Jedes Gerücht ist zum Untergang verurteilt. Und dennoch bringt das Leben, so beweist es die Menschheitsgeschichte, immer wieder neue Gerüchte hervor. Auch im kommenden Jahrhundert wird die „Gerüchteküche“ weiter brodeln, ganz gewiß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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