Von der kanadischen Autorin Barbara Gowdy (46) ist zu berichten, daß sie, nach den bisher bei uns erschienenen Büchern zu urteilen, einen Hang zu Geschichten hat, die von den Extremen des Lebens erzählen, von Deformationen und Obsessionen, die von der konformen Gesellschaft als abnorm ausgegrenzt werden. Der Roman Fallende Engel (1992) entpuppte sich als eine Rocky-Horror-Familienshow, als eine tiefschwarze Komödie, und der Erzählband Seltsam wie die Liebe (1993) enthielt acht Geschichten, die von Ungeheuerlichkeiten des Schicksals berichteten, zum Beispiel vom Schock einer Frau, die feststellt, daß sie einen Transsexuellen geheiratet hat.
Mit Joan steht auch im Mittelpunkt von Mister Sandmann eine absonderliche Figur. Bei der Geburt fällt sie auf den Kopf, und ein daraus resultierender Hirnschaden zeigt seltsame Folgen: Mit drei Jahren kann sie lesen, mit sechs Mozart und Bach spielen, obwohl ihr das niemand beigebracht hat, mit acht hat die ganze Enzyklopädie durchstudiert. Sie vermag alle Geräusche täuschend nachzuahmen, aber niemals zu sprechen oder zu schreiben. Sie erträgt nichts Lautes und Helles, verkriecht sich ständig in einen Schrank und vermag im Freien nur in nächtlicher Dunkelheit zu spielen. Körperlich bleibt sie im kindlichen Stadium, aber geistig scheint sie reif, da sie mit moderner Technik umgehen kann. Niemand weiß so recht, was sie denkt und wieviel sie versteht.
Die Autorin läßt uns fast zwei Jahrzehnte lang Anteil nehmen am Leben der Familie, in die Joan gehört. Es handelt sich um Vater, Mutter und zwei Töchter, die alle einander innig lieben und verstehen, die zusammenhalten und füreinander einstehen, von denen aber jeder doch einen gewichtigen Teil seines Lebens vor den anderen verbirgt.
Nach langer Ehe muß sich Gordon, der Vater, eingestehen, daß er nur vom eigenen Geschlecht angezogen wird. Heimlich lebt er seine Neigung mit anderen Männern aus. Doris, die Mutter, ist impulsiv, lebenspraktisch und unternehmungslustig. Im reifen Alter entdeckt sie eines Tages, daß sie sich leidenschaftlich zu Frauen hingezogen fühlt. Sie trifft auf die schwarze Oberschwester Harmony La Londe, auf die Avon-Beraterin Robin, auf Audy McPhee, Cloris Carter, Angela ...
Sonja, die ältere Tochter, ist etwas einfältig und begriffsstutzig, aber mit goldenen Händen begabt. Eines Tages wird sie, eigentlich ohne zu begreifen, was ihr zustößt, Opfer eines One-Nigth-Stands und infolge dessen im Alter von 15 Jahren schwanger. Doris gibt das Kind, um Schande von Sonja abzuwenden, als ihr eigenes aus. Marcy, die jüngere Tochter, ist ein Gegenstück zu Sonja. Sie benötigt zwar ein künstliches Haarteil, Kontaktlinsen und einen gepolsterten BH, aber sie schläft mit so vielen Jungs, daß sie aufgehört hat, sie zu zählen. Sie macht einen fabelhaften High-School-Abschluß. Das Stipendium für eine New Yorker Universität schlägt sie aus, arbeitet als Bürokraft und verdient bald als tüchtige Unternehmerin viel Geld, um damit ihre Liebhaber zu beschenken.
Und alle Familienmitglieder umgeben Joan mit aller Liebe und Fürsorge, deren sie fähig sind. Für Joan würden sie alle ihr Leben geben, wenn es sein muß, sogar ihr Liebesleben. Aber Joan steigert sich eines Tages in einen komativen Zustand hinein und hinterläßt eine Nachricht, die erhellt, daß sie alle Geheimnisse durchschaut. Sie zwingt die Familie zur Offenlegung, dabei spielt die Melodie von Mister Sandmann, ein Lied, das Gordon besonders liebt, eine ganz bestimmte Rolle. Als die Luft wieder rein ist (natürlich versteht und verzeiht jeder jedem), verbessert sich Joans Zustand schnell und sie kehrt in den Schoß der Familie zurück, in der nun Harmonie und Liebe mit Offenheit und gegenseitigem Verständnis korrespondieren.
Die Geschichte ist wundervoll komponiert. Da steht kein Wort zu viel, keines zu wenig und jedes steht an seinem richtigen Platz. Joan wirkt in der etwas exzentrischen Familie als Katalysator, wie Säure auf eine alte Münze. Ihre Geburt fällt in die fünfziger Jahre. Da waren uneheliche Schwangerschaften stigmatisierend, das Leben solcher Frauen war vorbei, ruiniert. Davor wollte Doris in ihrer Liebe Sonja bewahren. Aber auch Homosexualität wurde natürlich ausgegrenzt und häufig wechselnder Geschlechtsverkehr tabuisiert. Barbara Gowdy kämpft dagegen an. Sie plädiert für Toleranz und Verständnis, für Offenheit und Ehrlichkeit, indem sie ihre Romanfiguren auf leidenschaftliche Suche nach der persönlichen Wahrheit schickt.
Trotz oder auch infolge der irrationalen Züge ist ihr ein schönes, poetisches Buch gelungen. Dramatisch und atemberaubend spannend geschrieben ist es nicht, eher beschaulich, im Tone spöttisch und zärtlich zugleich. Es steckt voller Humor, Sarkasmus, Ironie und tiefer Menschlichkeit. Das ist von unvergleichbarem Reiz. Und kaum irgendwo ist je so zart und fein über Intimstes geschrieben worden und so offen über das Denken und Fühlen von Mann und Frau.