Eine Rezension von Jürgen Harder

Roman: unvollendet! Obszönität: vollendet?

Pier Paolo Pasolini: Petrolio
Roman. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn.
Herausgegeben von Maria Careri und Graziella Chiarcossi, unter der
Leitung von Aurelio Roncaglia.
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 1994, 704 S.

Alle Jahre wieder wird seit längerem in Deutschland das „Un-Wort“ des Jahres gesucht, gefunden und - mit einer Art verpöntem Lorbeer versehen - als ein solches publik gemacht. Nach Ansicht und Lektüre von Pasolinis Petrolio könnte jemand gar auf die Idee kommen, fürderhin periodisch auch das „Un-Buch“ ausfindig zu machen. In der Tat: Dieses Konvolut von Kapitel-Torsi, Text-Trümmern und Satz-Fetzen, welches die Herausgeber 1992 der italienischen Öffentlichkeit vorlegten, ist so weit von einem vollendeten Werk entfernt, daß man dieses unfertige Buch durchaus auch für ein „Un-Buch“ halten könnte.

Was der Autor selbst von der Publikation eines solch „fragmentarischen Fragments“ gehalten hätte - Mutmaßungen darüber scheinen mir müßig. Sicher ist: Er konnte sich nicht dagegen wehren. Er erlag 17 Jahre vorher einem mysteriösen Mordanschlag. Außerdem wissen wir: Pasolini hat kurz vor seinem Tode dieses gigantische Projekt als ein Geheimnis gehandelt, das zu lüften wohl nur er selbst befugt war. „Ich habe ein Buch begonnen, das mich über Jahre hinweg an sich bindet, vielleicht für den Rest meines Lebens. Ich möchte nicht darüber sprechen ...; nur soviel: es genügt, wenn man weiß, daß es eine Art ‚Summa‘ aller meiner Erfahrungen, aller meiner Erinnerungen ist.“

Alles, was er vorher geschaffen habe, sei nichts im Vergleich zu diesem Werk. Als er 600 Seiten zu Papier gebracht hatte, streute er die Ankündigung eines großen Romans von 2 000 Seiten. „Es wird mein letztes Werk sein; es amüsiert mich ungeheuer, dieses Geheimnis zu haben.“ Nachdem ein grausames Schicksal Pasolinis Pläne jäh durchkreuzte, gab es eine Situation, die alles andere war als „ungeheuer amüsant“. Insbesondere für die Herausgeber. Sie mußten nun inständig ihr Gewissen befragen: Ist es erlaubt, einen „unfertigen“ Text zu publizieren, zu dessen Verbreitung kein Einverständnis des Autors vorlag?

Zwar kennt die Literaturgeschichte nicht wenige prominente Beispiele der umstrittenen Herausgabe „nachgelassener Werke“ - von Lukrez und Vergil bis Kafka und Musil. Beispiellos bei Pasolini indes: Sein nachgelassenes Werk ist so ungeheuer weit entfernt vom angestrebten Ziel unterbrochen, ja abgebrochen worden, daß uns unvergleichlich vorläufige und bruchstückhafte Textmassen vorliegen.

Lese niemand diese Sätze als Abschreckung des potentiellen Lesers! Sie sollen dem Gegenteil dienen. Zunächst setze ich - in unserer auf Perfektion versessenen Welt - auf den wachsenden Reiz des Unvollkommenen. Am stärksten wird das Leserinteresse aber wohl durch die faszinierende, die „schillernde“ Persönlichkeit Pasolinis bewegt. Um das vermeintlich Abschreckende gänzlich zu vertreiben, sei auf die „notwendigen Hilfestellungen“ für die Lektüre verwiesen. Sie reichen vom vorangestellten Plot über einen ausführlichen Erläuterungsapparat bis zur minutiösen Information über Philosophie, Entstehungsgeschichte und erste empörte Reaktionen nach der Publikation des nachgelassenen Werkes in Italien. Der Leser weiß also schon zu Beginn, womit er es „im wesentlichen“ zu tun haben wird: Im Mittelpunkt steht Carlo. Ingenieur und Manager eines Konzerns. Er ist gespalten in den Carlo der Macht und den Carlo der Unterwerfung. Dr. Jekyll und Mr. Hyde lassen grüßen. Getrieben von einer Macht- und Sexualgier, die jeglichen bürgerlichen Anstand über Bord wirft, lebt der eine Carlo in der Welt der Kongresse, Salons, im alltäglichen politischen Zirkus, den Pasolini mit ebenso großer Kenntnis wie Verachtung beschreibt. Dagegen kommt der andere Carlo vom Lande, aus der kleinen Bürgerwelt der stillen Gärten und Spazierwege. „Er genießt die Geilheit der Ohnmacht.“ Der Titel Petrolio ist nicht eindeutig. Er bedeutet auf den ersten Blick schlicht „Erdöl“, spielt aber zugleich auf Petronio und sein Satyricon an. Trotz des Unfertigen dieses nachgelassenen Werks: Unverkennbar leuchtet fieberhaft das „furiose Porträt einer obszönen, machtgierigen und ichbesessenen Gesellschaft“ auf. Der mitgelieferte Kompaß für das Durchschreiten dieses literarischen Labyrinths läßt freilich genug offen, was ein Labyrinth erst reizvoll und spannend macht.

Ganz gewiß werden die „Jünger“ und Verehrer des Künstlers Freude an diesem Nachlaß des Meisters haben. Mag dieses grandiose Stückwerk auch die letzte Offenbarung des angekündigten Geheimnisses schuldig bleiben, zur weiteren Mythen- und Legendenbildung um Pasolini taugt es allemal. Für den Literatur- und Kunstinteressierten bietet der vorliegende Buch-Torso aufregende Einblicke in eine Künstlerwerkstatt. Fast unmerklich, aber unentrinnbar werden wir in einen chaotischen Schaffensprozeß hineingezogen, der seine geistige Spannung aus Pasolinis literarischem Avantgardismus bezieht. Was als Roman konzipiert wird, nimmt vor unseren Augen mehr und mehr die Gestalt eines „Meta-Romans“, eines monströsen Super-Essays an, dem man seine Bewunderung nicht versagen kann. Bei diesem großen Puzzle bleibt vielleicht die Frage offen: Siegt die Frustration oder setzen geistige Anstrengung und Geduld am Ende außergewöhnliche Impulse beim Leser frei?

Nichts scheint so sicher wie eine zwiespältige Wirkung. Doch alle einseitigen oder gar simplen Rezeptionen setzen sich der Gefahr einer Blamage aus. Mag „La Repubblica“ auch noch so gewettert haben gegen „ein so riesiges Repertoire an Schweinereien“, der „Roman“ hat seine düstere prognostische Kraft bewiesen. Fasziniert müssen wir uns heute fragen: Wie konnte Pasolini eine korrupte und infame Gesellschaft beschreiben zu einem Zeitpunkt, als ihre Korruption und Infamie noch durchweg geleugnet wurden?

Am Ende vielleicht nicht überflüssig zu erwähnen. Eine Gruppe kommt bei diesem fragmentarischen Fragment ganz besonders auf ihre Kosten: der literaturinteressierte Kreis, dem auch die Philologie ein wahres Abenteuer bedeutet.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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