Eine Rezension von Helmut Hirsch

„Im Schatten der Wörter“

Günter Kunert: Schatten entziffern.
Lyrik, Press 1950-1954. Herausgegeben von Jochen Richter.
Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 1995, 255 S.

Dieser Band hält Rückschau und ist doch ganz gegenwärtig. Günter Kunert schreibt seit fast einem halben Jahrhundert. Grund genug, endlich einmal das zu tun, was der Erzähler und Lyriker, der polemische Essayist und Reisebuchautor seit langem betreibt: Schatten entziffern. Das ist der Titel eines Gedichts von 1970, das prophetisch anhebt: „Wer zu lesen verstünde / die Buchstaben die keine sind: / bemooster Ziegel vom Dach / brandiges Holz noch vom Krieg / Blöcke geborstnen Betons ...“ Und es endet mit der Einsicht, der Hoffnung wohl nur, daß „alle Wahrheiten“ zwischen schrundigen Häuserzeilen stünden, wo gelebt worden ist. Doch alles ist anders, weit schwieriger. Im Prosatext Ich - Berlin von 1994 erinnert Kunert an alte Eindrücke im Berlin seiner Kindheit und Jugend. Seltsame, traumwandlerische Gänge durch die zerstörte Stadt: „Dieses merkwürdige Oszillieren zwischen kaum selber noch erlebter oder nur vermittelter Vergangenheit und einer Gegenwart, die zum Steinbruch abgesunken war, hat meine Gedanken bewegt und noch mehr meine Psyche.“

Damals und heute: Immer gerät Kunert an „gewisse Überbleibsel“: Inschriften, Steine, alte Frauen oder ein Stück „Unterwelt“, Reste von Straßenbahnschienen, Bilderrätsel im Beton. Er sieht das alles mit dem Blick eines Wanderers, süchtig nach Hieroglyphen, die zu ihm sprechen oder Auskünfte verweigern. Berlin ist ihm als Stadt seiner Erlebnisse nahezu verschwunden: „durchsetzt mit haltlosen Plätzen - eine Großsiedelei, eine Freude, die man nicht kennt; die einem nichts mehr zu sagen hat, und vor der man selbst sprachlos steht, ehe man sich abwendet, um zu erstarren.“

Seine Arbeit hat er gelegentlich als „abstruse Tätigkeit“ bezeichnet. Ironisch und ernst, denn: „Ich konnte nichts anderes, und ... ich wollte auch gar nichts anderes können.“ So spielt er gern Rollen, ist „Gesandter der Zukunft“ und weiß dennoch vom Ende der Aufklärung zu berichten. Dem Schreibzwang ausgeliefert, unternimmt er immer wieder Anläufe, „die nichts bedeuten als den Versuch / etwas von mir sichtbar zu machen ...“ Einmal ist sein Selbstporträt der „melancholischen Physiognomie eines Seehundes“ nahe, dann wieder lobt er den Regen und die Wolken oder fühlt sich gestärkt, wenn „vor der Tür Chamisso stünde / oder sein Schatten oder ich / sein Schatten bin oder auch Chamisso selber ...“

War der „Sucher“ Kunert in den sechziger und siebziger Jahren noch der „Vergiftung durch Werte“ und der „Angst vor der Angst“ auf der Spur, so ist der Ton neuerer und neuester Texte merklich sanfter, mitunter fast schon stimmlos. Im Gedicht „Gegenüber der Deponie“ (1990) fragt er: „Warum gebe ich die Welt verloren?“ Als Antwort die Einsicht in die Vergeblichkeit der Bücherwelt: „Weil in keinem geschrieben steht / was geschehen wird / was immer geschah / in vergangener Zukunft / von Wort zu Wort / zu Wortlosigkeit.“

Warum Günter Kunert dennoch nicht vom Schreiben lassen kann, ein Großkritiker hat ihn längst „Vielschreiber“ genannt, verrät schon der kleine Text „Eins plus eins gleich eins“ von 1972. Er ist seiner Frau gewidmet und steht nicht zufällig am Anfang dieses Bandes. Er teilt mit, warum eher mehr geschrieben als geschwiegen wird. Wer Kunerts Bücher, eine stattliche Reihe, kennt, weiß: Sie alle werden mit einer anmutig-blumigen Widmung für Frau Marianne eröffnet. Fast göttlich steht sie seiner Poesie zur Seite, und er lobt hoch: „Sie ist mit einem Wort, bis zu dem zu gelangen ich so viele gleichwertige brauchte: das Elementare.“

Hoch im Norden „Bei Itzehoe“ sind ihm die Elemente allesamt ganz nahe: „Jenseits und nördlich / meines verlassenen Daseins / also liegen tröstliche Flächen / zwischen Meer und Meer / Sumpf und Marsch / Nässe und Nichts.“ Dominierten während der Berliner Jahre noch die Stein- und Mauer-Metaphern, so hat der Ortswechsel auch zum Wortwechsel geführt. Im Text „Heimat“ (1986) gesteht er: „Ich gebe zu, viele meiner Texte aus keinem anderen Grund verfertigt zu haben, als für diese kurze Weile des Schreibvorganges andernorts zu sein, abwesend von den äußeren Umständen meiner Existenz.“

In neueren Texten taucht mehrfach der Begriff „Heimat“ auf. Der Dichter dürfe nicht vor dem Tore stehen bleiben, sondern „in ganz andere Brunnen hinabsteigen, um Heimat zu entdecken“, empfiehlt Kunert 1991. Denn Heimat sei „ein erweitertes kulturelles Bewußtsein“, und Unterwegssein die adäquate Lebensweise, weil „schreiben nichts Endgültiges konstituiert, sondern nur Impulse gibt“.

Ausdrücklich nimmt Kunert in jüngsten Prosatexten Abschied von ein paar Illusionen. So von der Über- und Selbstüberschätzung der Schriftsteller, vom „vermuteten Bedeutungszuwachs“ durch Literatur und eben pflichtgemäß auch von der Illusion eines demokratischen Sozialismus. Nicht ganz spurlos geht solch Paket des Abschieds am Gedicht vorbei. Im „Bekenntnis“ (1990) klingt es so: „Die Werte / werden zittrig statt trefflich“, und im Gedicht „Urteil“(1994) ganz frostig: „Du redest / von Menschen und sprichst schon / zu einer dir fremden Gattung.“ „Schatten entziffern“ ist ein Handwerk, das aussterben kann. Die Signale sind nicht zu überlesen. Noch erkennt der Leser dieser sachkundig ausgewählten und geschickt komponierten Texte das nuancenreiche Bild und Werk Günter Kunerts. Auch gibt es Überraschungen, Wiederbegegnungen, noch immer ist vieles schön, was einst unter anderer, doppelbödiger Beleuchtung erschien.

Noch findet der Dichter das Wort für diese Zeit: „So bleibt bloß ein kurzes Ausruhen / im Schatten der Wörter / von allem was sie besagen.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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