Eine Rezension von Erich Buchholzer

Die fatale Selbstverwirklichung

Brigitte Blobel: Das kalte Land
Marion von Schröder Verlag, Düsseldorf 1996, 368 S.

Irgendwo in dem Buch, einmal nur, taucht das Wort auf: Selbstverwirklichung. Es könnte ein heimliches Motto dieses Romans sein. Er handelt von Menschen, einer Familie und ein paar anderen Leuten, in einem Dorf nahe Flensburg, an der Grenze zu Dänemark. Jeder macht seins, und das ist ihm die Hauptsache. Die Familie - das sind Mutter Leonie, Vater Tjark und Tochter Annkatrin. Das Mädchen ist 15, wohl im schwierigsten Alter, falls es das gibt. Die anderen Leute sind zwei Ortspolizisten sowie einige Nachbarn, schon weniger wichtig, eigentlich nur Illustration der Tatsache, daß die Einheimischen ihr Urteil über die zugezogene Frau Leonie seit Jahren unverrückbar gefällt haben: Sie ist keine von uns. So wird die rauhe „Gegend zwischen den Meeren oben am 55. Breitengrad“, wo Brigitte Blobel die wenigen Menschen in überschaubarer Handlung angesiedelt hat, auch im übertragenen Sinn für die attraktive Leonie zu einem kalten Land. Dennoch oder um so mehr erkennt und genießt sie die herbe Schönheit der Natur, im Buch überzeugend geschildert.

Die Frau ist eine Fremde geblieben im Dorf. Sie führt ihrem Mann, dem bodenständigen Steuerberater Tjark, den Haushalt. Zu spät merkt sie, wie ihr die ungebärdige Tochter eine Fremde geworden ist, eine Tochter, der es an nichts fehlt und die von der Mutter bedient wird - eine Peinlichkeit, die der Leser fast schmerzlich empfindet; dem lieben Kind ist sie nicht bewußt. Mit wenigen Worten werden häusliche Situationen lebendig, als säße man mit am Küchentisch beim Essen. Annkatrin ist unbekümmert dabei, sich selbst zu verwirklichen. Das geschieht auf denkbar fatale Weise, wenn auch in keineswegs mehr seltener Manier: Sie fällt auf ein junges asoziales Männchen herein, geht mit ihm und seinen Freunden auf die schmierigen Liegen alter Wohnwagen, schließlich ins Ehebett der reichen Leute, deren Wohnung von der Gang ausgeraubt und demoliert wird - weg sind all die schönen Dinge, mit deren Anschaffung ein reichgewordener Primitivling und seine kongeniale Frau sich ihrerseits selbst verwirklicht haben.

Die Mutter, die in jungen Jahren ebenfalls üble Erfahrungen mit Sex machen mußte, diese jedoch nicht freiwillig, ist derweil mit eigener Selbstverwirklichung beschäftigt. Sie träumt einem ebenso zufälligen und kurzen wie höchst befriedigenden Liebesabenteuer hinterher, legt zur Erholung von der Hausarbeit immer mal eine Disk mit Vivaldi auf und lernt Oboe spielen. Der Dorfpolizist, der ihr öfters einen frisch geangelten Fisch an die Haustür hängt, verwirklicht sich tagsüber im Dienst und träumt nachts heftig von Leonie, seiner heimlichen Liebe. Vater Tjark macht in der Hauptsache seinen Job, hilft Steuerpflichtigen und Steuerflüchtigen, ahnt ebenfalls nichts vom unappetitlichen Leben der Tochter, gibt sich wie die Mutter mit Lügen des Kindes zufrieden. Aus der Schule, wo Annkatrin ständig Unterricht versäumt, wird den Eltern kein Alarmzeichen gegeben. Die Klassenlehrerin hat weder Auge noch Ohr für das Mädchen, das sich ihr anvertrauen möchte, kämpft nämlich gerade gegen das Scheidungsbegehren ihres Mannes, der sich mit einer Jüngeren selbst verwirklicht und das eheliche Haus haben möchte. Es zu verlieren wäre für die verlassene Frau schlimmer als der Verlust des Ehemannes. Ein kaltes Land. Die Autorin versteht es, ein Schicksal mit wenigen Strichen zu zeichnen.

Ein versöhnlicher Abschluß der Geschichte bleibt dem Leser erspart - sie ist auch in dieser Hinsicht lebensecht. Und sie endet, wie so manches Stück Wirklichkeit, durchaus fatal. Ein tragisches Schicksal, besser Zufall zu nennen, obwaltet. Einziger Lichtblick, der sich schließlich zeigt: Die 15jährige hat von „ihrer“ Gang die Nase voll. Offen bleibt, ob und wie das straffällig gewordene Mädchen Tritt fassen und wie Vater Tjark den vermutlichen Tod seiner Frau überstehen wird. Ein Schuß aus der Pistole ihres polizeilichen Verehrers trifft Leonie in die Brust. Polizisten, die sich als Sheriff verwirklichen wollen, können lebensgefährlich werden. Auf diesen Schluß, der aufgesetzt wirkt, hätte die Autorin verzichten sollen. Er verschiebt die Geschichte unnötig in Richtung Kriminalroman, und eben dies ist doch wohl nicht gewollt. Eine gute Autorin sollte keine Konzessionen an einen gemutmaßten Publikumsgeschmack machen.

In der Tat handelt es sich um eine Familiengeschichte, deren trübe und tragische Aspekte durchaus von dieser Welt sind. Und Brigitte Blobel will offenbar vor den geschilderten Gefahren warnen, vor allem vor Entfremdung in der Familie, vor einem Nebeneinander, das blind macht. Das ist ihre dringende Botschaft: Paßt gegenseitig auf euch auf, sprecht wahr miteinander, hört richtig zu, seid wach für alle Notsignale. Man muß einwenden, daß hier eine gestandene Autorin die große Kunst des Gestaltens und Formulierens von Dialogen oder Monologen nicht subtil beherrscht. Was da - beispielsweise - der rechtschaffene Dorfpolizist von sich gibt, ist konstruiert, bestenfalls Polizeischulstil: „Ich bin auf der Seite des Rechts. Auf der Seite der Opfer, der Unschuldigen. Ich werde dafür bezahlt, die Gewalttätigen von den Friedfertigen fernzuhalten.“ Dafür aber trifft die Autorin genau den Kern eines typischen Familienproblems, des gestörten Verhältnisses der Eltern zum pubertierenden Kind, speziell der Beziehung Mutter-Tochter.

Ausgezeichnet beobachtet und literarisch umgesetzt ist das Verhalten eines Mädchens an der Schwelle des Erwachsenwerdens, hier dazu noch das aufreizende und abstoßende Dasein als Groupi. Annkatrin erkennt scharfsichtig, „wie eklig das manchmal alles war. Und ich bin trotzdem immer wieder hin.“ Zugleich beschönigt sie, vielleicht aber empfindet sie wirklich so: „War ja nicht so schlimm. Hat ja manchmal Spaß gemacht.“ Sie fragt sich, wieso ihr jene Typen in den stinkenden Wohnwagen gefallen haben. Eine Antwort weiß sie nicht, wird sie wohl nie finden. Sie klagt sich vor den Eltern an und setzt zugleich einen Akzent gegen die Erwachsenen: „Ich paß nicht in eure schöne, heile Welt.“ Was weiß sie schon davon, wie heil diese Welt ist. Die Eltern haben ja den Schein stets zu wahren gesucht. Die Tochter sagt der Mutter: „Ich wollte euch da immer raushalten, Mami.“ Und die Mutter zur Tochter: „Ich wollte dich auch immer raushalten, Schätzchen. Aus allem. Jetzt wissen wir, daß es falsch ist.“ Allen Lesern stellt die Autorin schließlich ihre wahrscheinlich wichtigste Frage: „Wie kann eine Mutter neben ihrer Tochter leben und nichts, aber auch gar nichts wissen?“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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