Gerade hat Günter Grass wieder geröhrt. Nämlich, daß ihm im Laufe seines literarischen Lebens wiederholt der Tod des Romans weisgesagt wurde. Die Chronik vom angekündigten Tod des Romans ist lang. Länger und lebendiger ist das Geschäft mit dem Roman. Weil eine menschliche Spezies, Literaten genannt, nicht ausgestorben ist. Weil es den Medien, die nach der Literatur kamen, nicht gelang, die Literatur zu meucheln. Die Videowelt hat ihre Attacke gegen die Literaturwelt eben erst begonnen. Schon brüllt wieder einer Addio. Abschied von der Literatur. Wegen der Kontroverse - oder des Krieges? - zwischen Wort und Bild? Kontroverse, Krieg? Welcher Film, welches Fernsehstück lernt ohne Buch und Drehbuch laufen? So schlecht kann es um die Ausstrahlungs(!)kraft der Literatur nicht bestellt sein. Was soll dieses Addio, wenn nicht mal von einer Vergewaltigung der Literatur durch das Video gesprochen werden kann? Bleibt nur das wiederholte Palaver über ein leergedroschenes Problem? Es ist mehr drin in den Variationen über ein altes Thema. Der unpolemische Untertitel des mehrteiligen, buchfüllenden Essays Addio. Abschied von der Literatur ist Programm. Für den Verfasser, der zweigleisig fährt: als Germanist und Schriftsteller. Für Reinhard Baumgart. Als Mann der Tat und Tatsachen beschäftigen ihn nicht schwiemlige Theorien.
Wer nur den Prolog des Essays läse, also die Kapitel Abschiedsvorstellungen und Torquato Tasso als Modell, hätte bereits die vom Verfasser vermittelte Lektion kapiert. Literatur, die sich auch am blödsinnigen Wettstreit um Einschaltquoten beteiligt, wirkt auf Baumgart rührend oder gänzlich hilflos, als hätte sie selbst den Glauben an sich verloren. Als Souverän, das heißt als Schriftsteller, als unabhängiger Betrachter, das heißt als Literaturhistoriker, gibt der Autor seinen Glauben an die Literatur aus guten Gründen nicht auf. Die guten Gründe liegen nah. Im permanenten Abschiednehmen der Literaten von der Literatur. Denn die Zeit des Schönen ist vorüber, schrieb der 1786 nach Venedig ausgewichene Herr Goethe an Frau von Stein. Sein drei Jahre später, im Revolutionsjahr 1789, vollendetes Stück Torquato Tasso, betrachtet Baumgart als Grund- und Modelltext fürs goethische Fazit und das Abschiednehmen vom Literarischen. Die Disproportionen des Talent mit dem Leben, modellhaft im Tassoartikuliert, der ewig währende Zustand der Disproportionen von Literatur und Leben müssen durchaus kein Ende der Literatur einläuten. So Reinhard Baumgart. Simpler gesagt, das Spiel mit dem Abgesang, gar dem Untergang, sogleich des ganzen Abendlandes, ist Teil des Spiels, ohne das das Spiel nicht stattfindet. Ein bißchen Spekulation hat selten den Spekulanten geschadet. Jegliche Zeit möchte auch Zeitenwende sein. Kunstkrisen sind die Krisen, die von Künstlern gern genutzt werden. Von Proust und Thomas Mann bis zu Peter Weiss und Beckett. Von Marcel Proust in die schöne Formel gepreßt: Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur. Den Satz in Beziehung zu den Disproportionen von Talent, Leben, Literatur gebracht, ist klar, weshalb das Addio dazugehört wie das Amen in der Kirche.
Reinhard Baumgart arbeitet wie ein Mathematiker. Nach knapper Behauptung folgte die ausführliche Beweisführung. Der Literaturprofessor vergewissert sich des Gesicherten und sichert Vergewissertes in seinem essayistischen Exkurs. Der liest sich, zumeist, wie ein ausgefeilter Seminarkurs der achtziger Jahre. Kaum von der Flutwelle und ihren Folgen berührt, die das Jahr 1989 auslöste. Ein historischer Exkurs also zu einem Thema der Literaturgeschichte, das auch morgen aktuell und zu aktualisieren ist. Ob der Lektüre können sich die Feuilletonisten die Lippen lecken. Die Freunde der Literatur wirds freuen, daß der Literatur eine solche Lanze geschmiedet wurde. Die Debatte wird weitergehen. Bis sie einmal endet? Bis sich jemand an Reinhard Baumgart erinnert, der Anno Krug was sagte? Literatur lebt!