Eine Rezension von Joachim Pampel

„Täter - Opfer - Wende“

Wolf-Dieter Vogel (Hrsg.): Der Lübecker Brandanschlag
Fakten, Fragen, Parallelen zu einem Justizskandal.
Elefanten Press, Berlin 1996, 138 S.

Wer über das Jahr hinweg die Veröffentlichungen über jene Tragödie einigermaßen verfolgen konnte, die am 18. Januar 1996 im Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße 52 zehn Menschen das Leben kostete und 35 zum Teil Schwerverletzte forderte, nimmt diesen Paperbackband möglicherweise mit einander ganz entgegengesetzten Erwartungen zur Hand. „Was soll bei dieser verfahrenen Prozeßkiste eigentlich noch herauskommen“, mögen jene zu Recht fragen, die von den Ermittlungslücken, den unter öffentlichem Druck revidierten Justizentscheidungen, vom emotionalen Auf und Ab der medialen Enthüllungen oder gar tendenziösen Vorverurteilungen bis zum Abwinken gesättigt sind. Auch scheint „alles noch drin zu sein“ - aus eben den gleichen Gründen.


Die acht Autoren arbeiten in 9 Artikeln auf 138 Seiten Fakten des Lübecker Prozeßgeschehens und Paralellen zu den Vorgängen um die Brandanschläge von Hattingen am 5. Juni 1993, im oberpfälzischen Erbendorf am 29. und 30. Juni und in Solingen am 5. Juni des gleichen Jahres sowie am 22. Juni 1994 in Bochum heraus.

Deren Zusammenschau führt den Leser zu einer Reihe sich widersprechender Fakten, Fragen, die durchaus über das im alltäglichen Informationsprozeß Erfaßbare hinaus weisen: Überraschend schnell präsentierte Geständnisse von noch schneller gefundenen Tätern. Der Ausschluß oder die Aufnahme von Spuren allein aufgrund öffentlicher Stimmung. Vorschnell veröffentlichte Ermittlungsergebnisse, die bald widerrufen werden. Opfer als Täter.

Ja, dies scheint ein ebenso häufiges wie besonders makabres Kennzeichen strafrechtlicher Aufarbeitung politischer Vorgänge solcherart Thematik zu sein: daß Opfer sogar zu Tätern gestempelt werden. Selbst, wenn einmal ein deutscher Täter nach zwei Jahren gestanden hat, das Feuer aus Haß gegen Ausländer gelegt zu haben, so die Autorin Elke Spanner über den Anschlag von Erbendorf am 30. Juni 1993, „auch dann wird nicht davor zurückgescheut, dem Tatbetroffenen zumindest Mitschuld zu unterschieben, ihm seine Opferrolle und damit den rassistischen Hintergrund abzusprechen“. Das Heranziehen eines zwar anderen, aber deshalb nicht minder justitiablen Vorganges läßt E. Spanner sogar den Begriff der „Täter-Opfer-Wende“ prägen. Am 19. Dezember 1995 hatte das Hamburger „Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte“ den Behörden den Ghanesen Joel Boateng als das Opfer einer Scheinhinrichtung durch polizeiliche Ordnungshüter benannt: Nachdem Staatsanwalt Kuhn das Verfahrenam 15. Mai 1996 eingestellt hat, eröffnet er gegen Boateng selbst Ermittlungen wegen „Verdachts der falschen uneidlichen Aussage und des Vortäuschens einer Straftat“.

„Im Zweifelsfalle zugunsten des Angeklagten“. Angesichts der aufgelisteten Beispiele ist die Frage durchaus berechtigt, inwieweit der Rechtsststaat diesen Grundsatz aufzukündigen beginnt, etwa gar ins glatte Gegenteil verkehrt. Ob die skandalöse Serie allerdings die Definition „Justizskandal,“ wie im Untertitel für die Lübecker Vorgänge beansprucht, rechtfertigt, scheint ebenso fraglich. Eher zeichnet die Sammlung einen gesellschaftlichen Skandal nach: Wie sich marktschreierische Medien, öffentlichkeitsabhängige Beamte oder dem deutschen Schuld-Syndrom ausgelieferte Politiker in der Urteilsfindung gegenseitig zu überbieten versuchen und sich doch nur gegenseitig blockieren, das scheint eher die Krise gesellschaftlicher Strukturen der politischen Meinungsbildung und Willensfindung in diesem Land zu skizzieren.

Auch linke Zeitungsmacher, wie die in dem Büchlein versammelten „Junge Welt“-Autoren unterliegen selbstverständlich den Marktmechanismen der Meinungsbildung und können „Opfer“ interessenverengter Sichten auf die Dinge werden. Beispielsweise wird nirgendwo die doch öffentlich hinreichend bekannte Tatsache erwähnt, daß eine siebzehnjährige Rollstuhlfahrerin am 10.Januar 1994 in Halle eine Rechtsradikalenstraftat vortäuschte, indem sie sich ein Hakenkreuz in die Wange schnitt. Immerhin ist dies eine Tatsache, die im Kapitel „Täter-Opfer-Wende“ zumindest erwähnenswert, wenn nicht gar zu thematisieren gewesen wäre. Angesichts der aktuellen Wendungen im Lübecker Brandprozeß hätte eine Inanspruchnahme dieser an sich selbstverständlichen journalistischen Sorgfaltspflicht das von der Sammlung durchaus hervorgebrachte Nachschlagebedürfnis beim Leser noch befördert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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