Eine Rezension von Willi Glaser

Unsere neue Ahnentafel

Chris Stringer/Robin McKie: Afrika - Wiege der Menschheit
Die Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung des Homo sapiens.
Aus dem Englischen von Andrea Zapf.
Limes Verlag, München 1996, 383 S.

Die Menschheitsgeschichte steckt voller Rätsel und ist deshalb immer wieder durch aufsehenerregende Forschungsergebnisse - manchmal natürlich auch nur durch Spekulationen oder ungenügend nachweisorientierte Hypothesen - mehr oder weniger belebt worden. Die Suche nach den Ursprüngen ist in jüngster Zeit in eine Richtung gelenkt worden, die viele wissenschaftliche Standpunkte und Erkenntnisse mit scheinbar unerschütterlicher Beweiskraft in Frage stellt. Dabei sah es 1967, als man am Kibish, einem Fluß in Äthiopien, menschliche Skelettreste fand, zunächst nicht so aus, daß im Ergebnis anschließender breit gefächerter Untersuchungen viele Fragen der Evolution neu zu formulieren waren.

Der Kibish- Mensch, dessen Spuren eine Expeditionsgruppe unter der Leitung von Richard Leakey gefunden hatte, scheint nach vorliegenden Auswertungen und Erkenntnissen unser ältester durch Fossilienfund nachgewiesener Vorfahr zu sein. Man fand heraus, daß sein Körperbau massiger und die Schädelform anders war als bei vergleichsweise durchschnittlichen „modernen“ Menschen.

Die Reaktion auf die Leakeysche Entdeckung in Wissenschaftskreisen war sehr differenziert. Während die einen wegen des Fragmentcharakters des Fundes die Meinung vertraten, die Altersbestimmung sei nicht exakt genug möglich gewesen, kamen andere zu ganz neuen Schlußfolgerungen zur Homo-sapiens-Entstehungsgeschichte.

Eine in den 70er Jahren unseres Jahrhunderts entwickelte Hypothese geht davon aus, daß der Kibish-Mensch viel wahrscheinlicher der Vorfahr des vor etwa 25 000 Jahren in Europa lebenden Cromagnon-Menschen war als der bis dahin angenommene Neandertaler. Die Weiterentwicklung dieser Überlegungen in den 80er Jahren führte zu der jetzt vorwiegenden Lehrmeinung von der nahezu als sicher geltenden afrikanischen Wiege der Menschheit.

Wohltuend im Vergleich zu manch anderer wissenschaftlicher Abhandlung ist der kultivierte Umgang mit Meinungsgegnern der Verfasser. In diesem Zusammenhang gibt es übrigens auch überaus interessante Exkurse in die Theoriengeschichte. So erfährt man beispielsweise von einem bedeutenden Wissenschaftler namens Franz Weidenreich, einem in Deutschland geborenen Juden, der während des Faschismus emigrieren mußte und in New York ansässig wurde. Dieser hatte die Ausgrabung des „Peking- Menschen“ in China organisiert und die Auffassung vertreten, daß jede bewohnte Gegend der Welt ihre eigene menschliche Evolutionslinie hervorgebracht habe, wobei sich einige dieser Linien kreuzten. Nach seinem Tod 1948 führte sein Schüler Carleton Coon seine Arbeit weiter und veröffentlichte 1962 „The Origin of Races“. Ein Kerngedanke darin war, daß - wenn Afrika überhaupt die Wiege der Menschheit war - es sich dann bestenfalls um einen unbedeutenden Kindergarten gehandelt haben könne.

In beeindruckender Weise tragen Stringer und McKie in zehn Kapiteln Bausteine einer Theorie zusammen, die oft umwerfend einleuchtend, manchmal nicht alle Zweifel ausräumend, insgesamt jedoch stets logisch verknüpft und auf modernsten Erkenntnissen der Paläoanthropologie, der Archäologie und der Genforschung beruhend aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand vermittelt. Erstaunlicherweise ist die Gegensätzlichkeit der Auffassungen oft sehr gering. Das ist zu erfahren, wenn in relativer Eintracht Bipedie, Abhängigkeit von der Werkzeugherstellung und Gehirnvolumen als die bestimmenden Faktoren zur Mensch-Tier-Unterscheidung herangezogen werden. Andere Buchabschnitte beschäftigen sich mit Erläuterungen zur genetischen Beweisführung im Zusammenhang mit vergleichenden Untersuchungen zu Ähnlichkeitsmerkmalen unterschiedlicher heute lebender Rassen oder dem Problem, ob bestimmte Funktionselemente unserer Gehirnarchitektur für die erreichte Dominanz des Menschen in der belebten Natur verantwortlich waren.

Die theoretischen Abhandlungen zur Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte basieren auf verfügbaren Erkenntnissen und gesicherten Daten bisheriger und eigener Untersuchungen. Dabei ist die Form der Wissensvermittlung zu beachten, wie - statt auf eingefahrenen Erkenntniswegen dahindümpelnd - massenhaft Widerspruch provozierend sich letztlich doch Beweis an Beweis reiht. Geschickt wird hier Jacob Bronowski ins Feld geführt, der einmal gesagt hat, daß „die Wissenschaft ... eine sehr menschliche Form des Wissens ist“.

Die von den Autoren vertretene Überzeugung, daß alle Menschen dieser Erde ursprünglich aus dem afrikanischen Lebensraum kommen, das sogenannte „Out of Africa“ - Modell, ist nicht mehr der belächelte und auf gleich zwei Krücken humpelnde pseudowissenschaftliche Erklärungsversuch, der mit einer knappen Handbewegung abgetan werden kann. Heute sind die Verfechter dieses Evolutionsmodells eindeutig in der Überzahl. Aus der zweifelbehafteten Hypothese wurde eine orthodoxe Lehrmeinung.

Leider ist es hier nicht möglich, alle Einzelkomponenten und Logikelemente der Stringer- McKie'schen Beweiskette zu kommentieren. Aber es kann gesagt werden, daß das Buch voller Beweiskraft an alten Erkenntnissen und lange Zeit scheinbar gesicherten Formeln und Beweisen rüttelt. Die Art, mit der eine komplizierte wissenschaftliche Themenstellung komplex, übersichtlich und nachvollziehbar vermittelt wird, wie gleichsam Stein für Stein ein Erkenntnisgebäude entsteht, von dessen Standsicherheit man zwar am Ende nicht restlos überzeugt ist, das man aber trotzdem gern betritt, um sich intensiv umzuschauen und die geheimnisvolle Architektur zu bewundern, das macht ganz einfach Freude.

Ein wirklich empfehlenswertes Buch. Für den fachlich interessierten Leser eigentlich sogar ein Muß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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