Eine Rezension von Bernhard Meyer

. . . ausgedacht in deutschen Amtsstuben

Raul Hilberg: Unerbetene Erinnerung
Der Weg eines Holocaustforschers. Aus dem Amerikanischen
von Hans Günter Holl.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1994, 175 S.

Hierzulande wurde Raul Hilberg nur einem kleinen, aber um so interessierteren Lesepublikum durch sein dreibändiges Lebenswerk Die Vernichtung der europäischen Juden bekannt. Ein kleiner, inzwischen nicht mehr bestehender Verlag nahm 1982 das Risiko auf sich, das voluminöse Standardwerk herauszubringen. Es blieb unbeachtet. Erst die 1990 vom S. Fischer Verlag besorgte Publikation brachte den „Hilberg“ auf den Markt. Dennoch: Auch jetzt vollzog sich der verlegerische Akt eher unbemerkt, jedenfalls keineswegs mit der Medienaufmerksamkeit, wie dies gegenwärtig Daniel Goldhagen widerfährt. Dabei gilt Hilberg als der beste Kenner der Quellen für den europäischen Holocaust.

Hilberg teilt nunmehr in seiner neuesten Publikation Hintergründe und Begleitumstände seiner zur Lebensaufgabe erklärten akribischen Untersuchung des europäischen Holocaust mit. Dies geschieht zurückhaltend, ehrlich und deshalb für den Leser in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Immerhin ist zu berücksichtigen, daß der Autor in den USA und auch in der Bundesrepublik harte Kritik, auch von jüdischer Seite, erfuhr. Alles das blieb jedoch mehr unter Spezialisten und einzelnen Betroffenen. Um so bemerkenswerter ist es, wenn hier kein Beleidigter zurückschlägt, kein Unverstandener sich nachträglich zu erklären versucht, nicht denunziert oder angeschwärzt wird. Nein, Hilberg benennt aus der Sicht des unmittelbaren Akteurs die wenigen Förderer und die zahlreichen Skeptiker und Kritiker seines Projekts sowie die Widrigkeiten bei der Finanzierung, Drucklegung und akademischen Betreuung seiner fast fünfzig Jahre andauernden Untersuchungen.

Mit der Erforschung des Holocaust begann er 1948 in den USA. Hierher gelangte der 1926 in Wien Geborene 1939 durch die Flucht seiner Eltern nach der faschistischen Besetzung Österreichs. Während seiner Studien reifte das Vorhaben, über die Vernichtung der Juden durch den Hitler-Faschismus zu schreiben - aus der Sicht der deutschen Täter: „Die Judenvernichtung war ein deutsches Werk, ausgedacht in deutschen Amtsstuben, in einer deutschen Kultur.“ (S. 54) Aus der „Täterperspektive“ wollte Hilberg das Töten, das für ihn nicht eine „Greueltat im üblichen Sinne“ war, sondern „unendlich viel mehr“, (S. 52) aufdecken. Es ging ihm, wie er immer wieder betont, um dieses „Mehr“, für das er vor allem eine weitgespannte, fein verästelte Bürokratie mit zahlreichen auch subalternen Beamten verantwortlich machte.

Hilberg trat mit dieser Thematik in den USA der Nachkriegszeit, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf den beginnenden Kalten Krieg konzentrierten, bewußt aus dem „wissenschaftlichen Hauptstrom“ heraus. Das selbst auserwählte Forschungsgebiet, dessen war er sich voll bewußt, wurde von der akademischen Welt ebenso gemieden wie von der Öffentlichkeit. Sein Doktorvater, der Politologe Franz Neumann, der in seinem damals vieldiskutierten Buch Behemoth Nazideutschland als anarchisch, ein organisiertes Chaos bezeichnete, prophezeite ihm dann auch: „Das ist Ihr Untergang.“ (S. 58) Am finanziellen und psychischen Versinken war Hilberg mehrmals, versunken ist er trotzdem nicht. Sein Weg war alles andere als ein Spaziergang, denn er lieferte der internationalen Öffentlichkeit in vielerlei Hinsicht „unerbetene Erinnerungen“.

Nach nicht enden wollenden Recherchen, Dissertation und jahrelangen Bemühungen um Drucklegung erschien 1961 in den USA die erste Auflage. Die mäßige Reaktion führt Hilberg darauf zurück, daß die Menschen in den Vereinigten Staaten und auch in der Bundesrepublik Deutschland seinerzeit „allgemein nicht auf mein Thema vorbereitet“ (S. 108) waren. Experten hingegen knabberten an Hilbergs Grundthese vom Vernichtungsprozeß als einem bürokratischen Vorgang. Diese bürokratischen Fachleute erst mit ihren Ideen und Kenntnissen, diese denkenden Menschen, ihre allumfassende Bereitschaft und Verfügbarkeit organisierten jenen Mechanismus, der 6 Millionen Juden das Leben kostete. Hilberg setzte damit bereits vor Jahrzehnten der allgemein anerkannten Vorstellung, „die Nazis hätten einem willenlosen deutschen Volk ihren Willen aufgezwungen“, (S. 108) die Ansicht entgegen, daß sich genügend Menschen von Hitler verführen lassen wollten und zu willfährigen Schergen wurden. Im Gegensatz zur heutigen Goldhagen-Debatte rief die Hilbergsche Darstellung des Vernichtungsapparates damals keine öffentlichen Streitgespräche hervor - man ging einfach darüber hinweg. Bewegend die Geschichte der Versuche zur Herausgabe seines Werkes in der Bundesrepublik. (Angemerkt sei, daß der Titel in der DDR nicht verlegt wurde.) Es erschien lange Jahre Verlagen und Buchhandlungen nicht opportun, den noch lebenden, mit Ämtern versehenen Tätern Hilbergs Entlarvung vorzusetzen.

Hilberg schildert ausführlich (was bei seinem verknappten Schreibstil viel bedeuten will), warum sein Herangehen von offizieller jüdischer Seite her so vehement und kompromißlos abgelehnt wurde und bis auf den heutigen Tag abgelehnt wird. Fast emotionslos verweist er auf den hauptsächlichen Vorwurf, er habe den jüdischen Widerstand unbeachtet gelassen und statt dessen die jüdischen Institutionen als verlängerten bürokratischen Apparat der Nazis dargestellt. Die Juden seien so von ihm in die ausschließliche Rolle von Opfern gedrängt worden. Erstaunlich ist es schon, warum Hilberg in seinem Buch nicht die Chance nutzt, um die von ihm ja bewußt eingenommene Position grundsätzlicher und ausführlicher zu erläutern. Er gibt seinen Kontrahenten (besonders Arno Lustiger mit seinem „Spiegel“-Artikel von 1993) breiten Raum - und nimmt sich selbst derart zurück, daß mancher Leser glauben mag, Hilberg könne sein Herangehen nicht recht begründen. Gestärkt wird dieser Eindruck durch die Hilbergsche Erkenntnis, daß er lange brauchte, um zu erkennen, was er eigentlich hätte wissen müssen - er verstieß gegen Elemente des jüdischen Denkens, nämlich alle Großprojekte jüdischen Forschens auf die Juden selbst zu beziehen, die Persönlichkeit des Täters verblassen und die jüdischen Opfer als Helden erscheinen zu lassen. Hier wäre für Hilberg Gelegenheit gewesen, seine festgefügten gegenläufigen Ansichten von 1948 und heute, nun um Jahrzehnte gereift, darzulegen.

Aufmerksamkeit verdienen jene über die ganze Schrift verteilten Hinweise, die Hilbergs methodisches Vorgehen verdeutlichen. So verrät er sein archivalisches Sammelprinzip nach der Devise „Vollständigkeit plus Masse“. Das paarte sich mit der Überzeugung, viel zu finden, wenn man viel sucht. Für Hilberg vollzog sich ein Vernichtungs„Prozeß“, der 1933 keinesfalls feststand, sondern sich durch viele Einzelentscheidungen schrittweise herauskristallisierte. Der Holocaust war beispiellos; es existierte kein Modell dafür und so auch nicht für die Hilbergsche Darstellung. Die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen verlangte eine angemessene Form, der Autor konnte nicht „tausend Seiten lang schreien“. Und immer wieder das Nachdenken über die zu verwendenden Vokabeln - war es „Mord“, „Hinrichtung“, „Ausrottung“? Hilberg entschied sich für „Vernichtung“. Schließlich die Vermeidung von Weitschweifigkeiten im Interesse der Lesbarkeit bei einem so umfänglichen Thema, aber auch kein unverantwortliches Weglassen. Und: Gelassener, würdevoller Umgang mit anderen Persönlichkeiten, so mit Hannah Arendt, die sein theoretisches Eingangskapitel verriß, ansonsten jedoch die akribische Auflistung der Fakten „adelte“. (S. 135)

Hilbergs Buch ist keine Biographie, obwohl die anfängliche ausführliche Schilderung seiner Kindheit und Jugend im Lebenslaufstil daherkommt. Aber dann bricht dieser Stil ab, denn eigentlich geht es ihm darum, seinem Lebenswerk in Form eines „Erklärbuches“ Erläuterungen von Umständen und Ereignissen beizufügen, die sich aus seinem Standardwerk nicht ergeben. Wer also die hier besprochene Lektüre einordnen möchte, dem sei zumindest ein Blick in die Vernichtung der europäischen Juden und Täter, Opfer, Zuschauer (1992) empfohlen. Bestechend, wie es dem Autor immer wieder gelingt, mit knappen Worten große Bilder für bewegende Probleme zu schaffen. Zuweilen jedoch bricht bereits nach kurzer Andeutung ein Gedanke ab - der Leser ist sich allein überlassen, kann für sich weiterdenken, manchmal allerdings auch an Stellen, wo er des Autors Auffassung gern kennengelernt hätte. Aber das ist letztlich Hilbergscher Stil, den eine bis zur Perfektion betriebene Sachlichkeit, ja sogar spröde Nüchternheit ausmachten. Die Fakten und Tatsachen sollen wirken, nicht das Beiwerk des Autors, so seine Maxime. Erfrischend die sich durch sein Leben ziehende naiv-ehrliche Art, ohne Protektionen, ohne finanzielle und verlegerische Erfahrungen, nur besessen von einer Idee und deshalb kaum zu Kompromissen neigend, eigenwillig über Jahrzehnte das für richtig Erkannte uneigennützig zu verfolgen. Das kann nur einer, der ein Anliegen verinnerlichte, das er um der Wahrheit willen anging, nicht aber um Ruhm und Ehre und Ämter zu ernten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite