Eine Rezension von Arno Steinwald

Deutsch-deutsche Fehltritte

Henryk M. Broder: Volk und Wahn
Spiegel Buchverlag und Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1996,
256 S.

Ostalgie, der Streit um Feierabend und Ladenschlußgesetz, sprachliche Feinheiten der DDR, wie „Sättigungsbeilage“ und Kürzel wie „IM“, Germanisierung des Holocaust sind nur einige Beispiele für Inhalte, die sich auf folgenden Nenner bringen lassen: Wie dumm darf ein Volk sein, das den Mord an 6 Millionen Juden zu verantworten hat? Volk und Wahn, die Sprache Broders und der gewählte Gegenstand, die Deutschen, ergeben ein wichtiges, aber auch schwieriges Buch. - Der Autor dieser Rezension hat auch eine gewisse Distanz zu „den“ Deutschen. Als Leser habe ich manchmal den Eindruck, als käme Broder nicht von seinem Gegenstand los, sei ihm in Haßliebe „auf ewig“ verbunden. Dies ist nicht verwunderlich: Henryk Broders Sprache ist das Deutsche. Ich kann nicht beurteilen, ob ihm das Neuhebräische Israels genau so viel bedeutet, ob er es überhaupt spricht und schreibt. Schwer lesbar ist Volk und Wahn deshalb, weil Broder meistens recht hat. Minuziös wie ein Buchhalter hält er uns die „schönsten“ Verfehlungen vor das Gesicht, von Globke bis Gysi, immer auch frei nach dem Motto: `s gibt gutte Jiden und beese Jiden. Das Kapitelchen über Markus Wolf ist amüsant, für West-Leser! DDR-sozialisierte Leser fragen sich vielleicht, warum gerade unser Spionage-Chef und nicht irgendeiner aus der Riege seiner westlichen Kollegen? Die Antwort: Die sind sicher zu langweilig und nicht ergiebig genug. Daß ich als Rezensent meine eigene Distanz zu allem Deutschen habe einfließen lassen, liegt an folgendem: Schwerlich ist vorstellbar, wie Broders Leser aussehen sollen. Hat er Leser oder hat sein Buch allenfalls Käufer? Eine renommierte Buchhandlung in Berlin-Mitte hat seit der Frankfurter Buchmesse dieses Jahres lediglich zwei Exemplare verkauft. Die Leser Ost werden sich sperren. Zu deutlich wird, daß Broder sie für noch dümmer hält als ihre schon dummen und gedankenlosen Brüder und Schwestern aus der alten Bundesrepublik. Und wie würde der Bundesdurchschnittsdeutsche Volk und Wahn lesen? Alles, was den Deutschen aus Broders Generation noch heilig sein könnte, wird durch den Kakao gezogen, die SPD, zu Recht anscheinend, die Grünen, die Intellektuellen. Aber daran ist wohl nicht der Autor schuld, daß wir Deutsche vorzügliche Opfer für das genannte Getränk sind. Staunend konnte ich bei Broders Lektüre feststellen, was so im Laufe einiger Jährchen zustandekommt. Ich habe dieses Buch etwas ratlos aus der Hand gelegt. Broder bietet ein umfängliches Arsenal gegen „die Deutschen“. Was er ihnen vorwirft, ist, unter anderem, daß sie nicht zu leben verstehen, sie, die Deutschen, würden sich akribisch um jede Nebensächlichkeit (zum Beispiel „Ladenschlußgesetz“) kümmern statt einfach zu leben. Aber wie sollen sie das bewerkstelligen? Einfach leben! Sechs Millionen tote Juden. Eine halbe Million Stasi-Spitzel im Laufe der 40 Jahre DDR. „Siegerjustiz, Verleumdung und Verschwörung“, so schreien die „IMs“ laut Broder. - Ich muß gestehen, daß ich mir ebenfalls nicht gern vorstellen will, wie die „Siegerjustiz“ im umgekehrten Falle ausgesehen hätte, bei einem Sieg des Sozialismus. Wovon man bei Broder wenig findet, das ist die Tatsache, daß der „Sieger“ BRD keinen leichten Sieg errungen hat. Daß das, was ihm so scheinbar leicht zufiel, schwere Hypotheken darstellt. Daß das System Kapitalismus seine Krise gerade mal anlaufen läßt, davon ist bei unserem Autor nicht viel zu finden. Die anfangs flotte Schreibe weicht, dem Autor sei Dank, dann doch mehr und mehr einer peniblen Auflistung deutsch-deutscher Fehltritte. Wenn Broder den West-Berliner Politologen Krippendorf mit dem Vorschlag zitiert, die Juden hätten das Dritte Reich destabilisieren können, wenn sie, „statt sich widerstandslos deportieren zu lassen, Sitzstreiks an den Verladerampen durchgeführt hätten“, dann ist es sehr wichtig festzustellen, daß Broder verkürzend und insofern entstellend zitiert. Am Kontext interessierte Leser können in der „taz“ vom 19. und 22. Januar 1991 feststellen, daß Krippendorfs Aussage nichts mit Broders Unterstellung zu tun hat.

Dennoch gilt für Volk und Wahn insgesamt: „Gute Nacht“, Deutschland, und Broder stört den Schlaf ein wenig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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