Eine Rezension von Cäsar Blech

„Es gibt nur eine Wahrheit,
aber die Weisen nennen sie mit verschiedenen Namen.“

Lexikon der östlichen Weisheitslehren: Buddhismus, Hinduismus,
Taoismus, Zen
Scherz Verlag/O. W. Barth Verlag, München, 3. Aufl. der Sonder-
ausgabe 1995, 497 S.

„Das vorliegende Lexikon stellt erstmals die grundlegende Terminologie und die Lehrsysteme der vier großen östlichen Weisheitslehren Buddhismus, Hinduismus, Taoismus und Zen in enzyklopädischer Form allgemeinverständlich vor“ - so lautet die hohe Meinung des Verlags über sein Produkt. Aus dem begründeten Stolz heraus, damit eine wissenschaftliche und editorische Pionierleistung vollbracht zu haben, wird dem Leser in Deutschland „alles über Philosophie, Religion, Psychologie, Mystik, Kultur, Literatur des Fernen Ostens“ versprochen.

Die Absolutheit dieses Versprechens paßt freilich nicht so ganz zum kritischen Selbstverständnis der Herausgeber, die in ihrer Einführung auch einräumen, daß - wie alle Pionierunternehmen dieser Art - das vorgelegte Lexikon „sicherlich mit Mängeln behaftet ist, die aber hoffentlich von seinem Nutzen aufgewogen werden“.

Kein Zweifel: In dieser Hoffnung kann man die Herausgeber und Verfasser der Beiträge unbedingt bestärken. Dies gilt umso mehr, wenn man daran erinnert, daß dieses Lexikon bereits 1986 im Scherz Verlag Bern, München, Wien erstmals erschien und uns jetzt die 3. Auflage der Sonderausgabe 1995 vorliegt. Denn gerade in den letzten Jahrzehnten schlug der Einfluß der östlichen Weisheitslehren im hochzivilisierten Westen immer mehr durch und „eroberte“ auch in Deutschland immer neue Lebensbereiche. Charakteristisch: Dieser Einfluß blieb nicht beschränkt auf die Praxis von Heilkunde, Psychotherapie, Meditation oder andere Schulungswege, die ganz auf die Einheit von Körper und Geist setzen. Zugegeben: Bestimmte Bestandteile und Motive des Buddhismus und der anderen fernöstlichen Weisheitslehren spielten schon immer auch ihre Rolle in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte. Die Quantität und Qualität indes ist neu, mit der sie gerade in letzter Zeit auch in neue Bereiche eindringen: von den Wissenschaften bis zum modernen Unternehmensmanagement.

Für das erste Gebiet mag das Werk des Atomphysikers Fritjof Capra Das Tao der Physik stehen. Die von ihm festgestellte Konvergenz der Aussagen moderner Physik und östlicher Philosophie führt zu einem ganz neuen Bild unserer Welt. In dieser Welt wird der Mensch nur dann weiter vorankommen, wenn er die wissenschaftliche Erfahrung mit der mystischen Dimension seines Daseins verbindet und wenn er beides in sein Denken und Handeln mit einbezieht. Für den anderen Pol der Entwicklung mögen die „Visionen im Management“ stehen. In ihrer Untersuchung der erfolgreichsten Weltunternehmen stießen die Amerikaner Collins und Porras auf das Geheimnis des Erfolgs: auf die Anwendung des Prinzips Yin und Yang in Reinform.

Der Boden für ein weitreichendes Interesse an einem Lexikon der östlichen Weisheitslehren war also auch in Deutschland bereitet. Mehr noch: O. W. Barth und der Scherz Verlag hatten daran ihren eigenen Anteil. Das Lexikon mit seinen rund 4 000 Stichwortartikeln wendet sich aber nicht in erster Linie an die Spezialisten der jeweiligen Fachgebiete im deutschsprachigen Raum. Im Verständnis der Herausgeber und Verfasser soll das Werk vielmehr all jenen, die in den unterschiedlichsten Bereichen ihres Lebens - und nicht zuletzt in den Medien - gegenwärtig immer häufiger auf Begriffe und Vorstellungen aus den östlichen Weisheitslehren stoßen, einen „ersten Pfad durch das Dickicht“ der ebenso fremden wie faszinierenden Ausdrücke schlagen: zur verständnisvollen Annäherung an ihren Geist, an ihre „Weisheit“ und „Wahrheit“. So bekannt und vertraut uns auch die beiden letztgenannten Begriffe sein mögen, ich habe sie mit Anführungsstrichen versehen, um zu warnen vor einem allzu leichten Zugang zu diesen Lehren. Ihre Wahrheiten und Weisheiten sind doch sehr verschieden von den unseren: den abendländischen. Wenn wir Erkenntnisse und Wissen gewinnen wollen, sind uns die objektiven Daten und Meßergebnisse der Naturwissenschaften unentbehrlich. Auch die „Forschungsmethoden“ der östlichen Lehren sind durchaus pragmatisch orientiert. Dennoch: Wo wir die Analyse anstreben, die sich auf verläßliche Daten und Fakten stützt, da sind die Weisen des Ostens auf das Ganze, die Synthese aus, gewonnen durch Einsichten und Erleuchtung. Und deren Wesensgehalt erschließt sich nicht in der uns geläufigen rational-begrifflichen Vermittlung.

Das Lexikon leistet aber nicht nur in solchen Grundsatzfragen unentbehrliche Hilfe. Das Nachschlagewerk stellt sich auch den außerordentlichen Schwierigkeiten, die sich allein daraus ergeben, daß die „Begriffe“ aus mindestens fünf asiatischen Sprachen (Sanskrit, Pali, Tibetisch, Chinesisch, Japanisch) stammen, was ganz spezifische Anforderungen an die Übersetzung und Transkription stellt. Außerdem: Buddhismus, Hinduismus, Taoismus und Zen - so sonnenklar geschieden diese Namen der Weisheitslehren dastehen, so dunkel verwoben und verworren wird es wieder für den abendländischen Leser, wenn er von deren Entwicklungsgeschichte, ihren Verschmelzungen mit autochthonen Religionen, ihren Modernisierungsschüben und politischen Anpassungsmanövern, ihren inneren Differenzierungen, Spaltungen und Rivalitäten erfährt. Ganz zu schweigen von den gegenseitigen Beeinflussungen der Weisheitslehren untereinander, die am Versuch einer Unterscheidung dann schier verzweifeln lassen. Doch dies alles sollte den Benutzer des Lexikons nicht entmutigen. Im Gegenteil. Die Begegnung mit dieser „fremden“ Geisteswelt wird nur umso anregender und im besten Sinne aufregender. Der große deutsche Physiker Werner Heisenberg sagte: „Die fruchtbarsten Entwicklungen haben sich überall dort ergeben, wo zwei unterschiedliche Arten des Denkens zusammentrafen.“ Dies kann als große Ermutigung aufgefaßt werden. Vielleicht sogar als Hinweis auf die letzte Rettung des Abendlandes - angesichts seiner modernen Krisen und Sackgassen des Denkens. Dies würde zugleich bedeuten: Das vorliegende Lexikon bedient nicht etwa nur eine Modeerscheinung. Nein, es wäre unverzichtbares Instrument bei der Unterstützung einer weltgeschichtlich bedeutsamen geistig-kulturellen Evolution.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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