Eine Rezension von Lothar Erdmann

Panoptikum und Traumfabrik

Die Chronik des Films
Chronik Verlag im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh,
und Harenberg Verlag, Dortmund 1994, 640 S.

Bereits das Deckblatt spricht an, ist mit einem unverwechselbaren Ikon geschmückt: „Der blaue Engel“, „Vom Winde verweht“, „Casablanca“, „Jules und Jim“, Hitchcock und „Oscar“ lassen bitten, hereinspaziert, meine Damen und Herren, es lohnt sich! Als 1895 die Brüder Lumière in Paris, Ottomar Anschütz und die Brüder Skladanowsky in Berlin, Filoteo Albertini in Rom, Robert William Paul in London und Thomas Alva Edison in New York ihre Kaleidoskope, Bioskope, Theatrographen und Kinematographen vorstellten und erstmals „lebende Bilder“ vorführten, war die Geburtsstunde des Films und des Kinos eingeläutet worden. Laterna magica und Camera obscura gaben Geheimnisse preis, deren Faszination ungebrochen anhält. Technische, chemische und biologische Entwicklungen hatten die enthusiastisch bestaunte neue Erfindung möglich gemacht. Die damals noch übliche manuelle Aufnahme der Bilder und vor allem deren sensationell angekündigte Wiedergabe mit der Handkurbel via Lebensrad oder Guckkasten in Varietés und Jahrmarktsbuden verlieh dem sich rasch perfektionierenden Genre des Showbusiness eine Aura magischer Verführbarkeit, die später auch Geschichtslügen und Kunstfälschungen ermöglichte. Einfache Bewegungsabläufe mit raffinierter Wirkung - ein scheinbar geheimnisvoller Vorgang, der das Bedürfnis nach Ablenkung, Gaukelei und Täuschung befriedigte. Effektvolle Unterhaltung war angesagt, da störte es die Schaulustigen nicht, daß die Streifen zunächst noch stumm blieben.

Nach einhundert Jahren Filmgeschichte erweist sich diese Chronik des Films als notwendiger Wegweiser durch ein inflationäres billionenfaches Angebot vieldeutiger Bilder. Das schwierige Problem, „bewegte Bilder“ „chronologisch“ darzustellen, ist ansprechend gelöst. Die Chronik ist optisch hervorragend aufgebaut und strukturiert. Namen, Zahlen, Fakten und Ereignisse, Drehberichte und Hintergrundinformationen sind historisch richtig eingeordnet und mit über 2 700 Abbildungen dokumentiert. Neben dem unverzichtbaren Personen- und Titelregister bietet das Buch 79 Kalendarien, 78 tabellarische Zusammenstellungen und 2 000 Einzelartikel. Der erste Filmkuß ist ebenso sachkundig aufgelistet wie der erste Krimi, die erste Nacktszene, die erste Filmzeitschrift u. ä. Die Chronik - ein Schatzkästlein des Cineasten - eignet sich als solide Grundausstattung des Fachmanns und wird dem Liebhaber dieser populären Kunst eine Fundgrube sein.

Bei der Auswahl der über 2 500 Filme hatten die Chronisten natürlich die Qual der Wahl. Wissend, daß Filme ein Substrat aus Wirtschaft und Technik sind, aus Kultur, Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Geschichte und Geographie sowie Psychologie, Kalkül, Zeitgeist und Mode, standen sie vor der Misere, dieses Konglomerat widersprüchlichster Hervorbringungen überschaubar einzuordnen. Denn unter philosophischem, ästhetischem oder moralischem Aspekt können Filme lustig oder traurig sein, monumental oder kammerspielartig, avantgardistisch, grausam, makaber, brutal, schockierend, destruktiv, deprimierend, ehrlich, sympathisch, stimulierend ...

Abgesehen von diesen zahlreichen Klippen bleibt noch die ewig strittige Gretchenfrage, ob das Kriterium des künstlerischen Werts gilt oder das der Publikumsresonanz, ob Kunst oder Kasse das Primat haben.

Es ging also zunächst um Jahrmarktsrummel, Circensisches und Artistisches, um „Menschen Tiere Sensationen“. Als die Bilder aber laufen lernten, Produzenten und Künstlerpersönlichkeiten sich zu profilieren begannen, merkte man trotz der Unbestechlichkeit des Kameraauges, wie sehr sie einander auch gleichen können. In expressionistischem, surrealistischem oder realistischem Dekor ging es um ewige Themen con variazioni wie Liebe und Tod, Jäger und Gejagte, Außenseiter und Angepaßte. Es ging um Unterdrückung und Auflehnung, um Sklaverei, Willkür, Macht, Diktatur, Demokratie und Freiheit: Königsdramen, Dirnentragödien, Arbeiterschicksale ect. Spartacus und Dschingis Khan, Jesse James, Faust und Mephisto, Mata Hari, Al Capone, Hitler und Stalin waren einige der geschichtsträchtigen Helden, Dr. Mabuse, Dracula, King Kong, Tarzan und Außerirdische wurden zu Prototypen der Kinomythen.

Beim Blättern in der Chronik wird eine typische Erscheinungsform deutlich, daß der Popularitätsgrad entscheidend davon abhängt, ob ein Filmemacher vor oder hinter der Kamera gewirkt hat. Gebührenden Raum erhielten Genies wie Orson Welles oder Chaplin, herausragende Künstlerpersönlichkeiten wie Buster Keaton, Eisenstein, Fritz Lang, Walt Disney, Hitchcock, Fellini, de Sica, Kurosawa u. v. a. Avantgardisten wie Bunuel, Godard, Resnais, Tarkowski u. a. Ästheten, Neorealisten, Kultfilmer - um nur einige zu nennen.

Eine Chronik aufzubauen ist eine gewaltige Fleißarbeit, die praxiserfahrene Mitarbeiter des Chronik Verlages seit Jahrzehnten mit Perfektion und Routine vollbringen. Zum Nachteil und inhaltlichen Verlust dieser Publikation trug jedoch zweifellos die Tatsache bei, daß Bertelsmann und Harenberg keinen Sachkundigen aus der ostelbischen Region für würdig erachteten, das Team ihrer neun Autoren aus Köln, Hamburg, Unna und Gelsenkirchen zu verstärken. Trotz spürbaren Bemühens um Objektivität erlagen sie offensichtlich des öfteren den Vorgaben einer nicht ganz überzeugenden Konzeption und dem üblichen Zeitdruck. Selbstverständlich gehört auch die namentliche Erwähnung von Vertretern des goldenen Mittelmaßes und durchschnittlicher Routiniers zur Chronistenpflicht. Aber allgemein fällt auf, daß schöperische Potentiale aus vierzigjähriger Filmgeschichte in Kinematographien des ehemaligen Ostblocks dadurch etwas unter Wert präsentiert bzw. schlicht übersehen worden sind. Zu den „Vergessenen“ gehören m. E. Jiri Trnka, Popescu-Gopo, Evald Schorm, Zoltan Huszarik, Georgi Schengelaja, Jan Svankmajr, Sergej Paradshanow, Grigori Tschuchrai, Karoly Makk, Dusan Vukotic und zahlreiche andere. Abgesehen von der ungenügend recherchierten Schreibweise von Namen osteuropäischer Künstler wie Borowczyk, Makavejev, Krzyzewska u. a. fehlen auch einige der schönen Polinnen oder Namen wie Jana Brejchova, Bogumil Kobiela, Rudolf Hrusinsky, Andras Balint u. a. Auch Ousmane Sembene ist nicht erwähnt und dessen Einfluß auf die Entwicklung des Spielfilms in Schwarzafrika. Oder Manuel de Oliveira, der „Papst“ des portugiesischen Films, Miguel Littin u. a. Hier scheint das Bewertungssystem etwas aus dem Lot geraten zu sein.

Für eine Chronik des Films und ein so hervorragend aufgemachtes Buch wie diese Bertelsmann-Produktion, die besonders durch das Design und zahlreiche Abbildungen wirkt, ist es eine schwache Leistung, daß der Anteil der Schöpfer dieser Bilder auf ein Minimum beschränkt wurde und so bedeutende, weltberühmte Kameraleute wie Raoul Coutard, Nestor Almendros, Jan Curik, Igor Luther, Gabriel Figueroa, Tomislav Pinter, Lajos Koltai, Walter Lassally oder Sven Nykvist nicht einmal erwähnt werden.

Ein Wort natürlich auch zu den enormen Schwierigkeiten der Einordnung nach sich vielfach überschneidenden Genres. Es gibt Stummfilme, Slapsticks, Burlesken, Klamaukfilme, Lustspiele, Komödien; Kammerspiele, Tragödien, Melodramen; Historienfilme, Monumentalfilme, Kriegsfilme, Abenteuerfilme, Western, Kriminalfilme, Gerichtsfilme; Grusel- und Horrorfilme, Science-fiction- und Katastrophenfilme, Gangsterfilme; Liebesfilme, Erotikfilme, Boxfilme, Mafiafilme, Vietnamfilme, Schwulenfilme, Dokumentarfilme, Familienfilme, Märchenfilme, Kinderfilme, Musikfilme, Operettenfilme, Musicals, Tier- und Naturfilme, Pauker- und Lümmelfilme, Zeichentrickfilme, Autorenfilme, Kultfilme, Literaturverfilmungen ... Sind die berühmten „Drei Musketiere“ nun eine Literaturverfilmung, ein Abenteuerfilm oder ein Mantel- und Degenfilm?

Neu seit Ende der sechziger Jahre der Begriff „Splatterfilme“ für besonders gewalttätige, blutrünstige, ekelerregende Produktionen. Oder die modernistischen Genrebezeichnungen in heutigen Programmzeitschriften wie etwa „Schwangerschaftskomödie“, „Fanatismusthriller“ , „Autismusdrama“ u. ä.

Neben den Regisseuren erfahren vor allem natürlich die im Licht stehenden Akteure die ihnen gebührende Aufmerksamkeit: Legenden wie etwa die Garbo, die Dietrich, Fred Astaire, die Monroe, die Bardot, Bogart, James Dean und Brando beispielsweise und viele andere: Komödianten, Bonvivants, Abenteurer, romantische Helden, die Kommissare, Westernhelden, Sexgöttinnen, Shooting Stars, die Wunderkinder u. a.

Diese Chronik hundertjähriger Filmgeschichte macht auch die weltweit erdrückende Dominanz Hollywoods in allen Bereichen evident. Hollywood kann am wenigsten verhehlen, daß die Filmwirtschaft Quelle von Ruhm und Reichtum ist und mit astronomischen Gagen in einem Millionenspiel pokert, das Einschränkungen jeder Art verbietet: Produktionsgesellschaften und deren Methoden, Budgets, Technik, Personal, Verleih und Abspielstätten, Werbung und Kritik sind Faktoren eines gnadenlosen Verdrängungswettbewerbs um die Gunst des Zuschauers geworden. Mit Perfektion und durch Befolgen eines erfolgsorientierten Marktprinzips wird Film als Ware gehandelt. Nach dem Gesetz der Serie werden Fortsetzungen und Remakes herausgebracht, Previews, Trendsetter oder Kultfilme propagiert und freizügige Stars mit dem „Basic Instinct“ und „Venusfallen-Effekt“ gefeiert. Filmkunst überwiegend unter dem Aspekt, vor allem junge Leute immer wieder ins Kino zu locken.

Dieses Buch konzentriert sich notwendigerweise auf das Faszinosum Film, klammert das Fernsehen weitestgehend aus, obwohl die TV-Kanäle als wichtige Abspielstätten längst harte Konkurrenten der Kinos sind. Der österreichische Kunstkritiker Bernhard Frankfurter kam in einer Studie Mitte der neunziger Jahre zu der Feststellung, daß das Kino als Kultraum in der Industriegesellschaft durch die elektronischen Medien und die schnelle private Verfügbarkeit „bewegter Bilder“ an Bedeutung verloren habe. Deshalb ist zu hoffen, daß diese Chronik bei der Orientierung in einem Dschungel widersprüchlichster kinematographischer Angebote hilfreich sein kann.

Die Chronik des Films macht auch den Widerspruch und Zwiespalt augenscheinlich, den Filmbilder widerspiegeln können: vermitteln sie Harmonie oder Anarchie, verherrlichen sie Gewalt oder dienen sie der Erbauung? Ein nützlicher Begleiter auf dem Weg in das zweite Jahrhundert einer populären Kunstgattung, ein schönes und wichtiges Nachschlagewerk mit unterschiedlichem Gebrauchswert - es lädt ein zum Erinnern, Träumen und Nachdenken und regt an zu weiterem Kinobesuch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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