Wiedergelesen von Helmut Fickelscherer

Werner Bergengruen: Die Rittmeisterin

Nymphenburger Verlagshandlung, München 1954, 451 S.

Nach einer Umfrage des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ war Werner Bergengruen (1892-1964) - neben Hermann Hesse - 1967 der beliebteste Autor bei der studentischen Jugend. Das ist aus zwei Gründen um so erstaunlicher, als ihm zum einen neuerdings „rückwärtsgewandte Sentimentalität“ vorgeworfen wird - und zum anderen, als die Studenten jener Zeit keineswegs Sentimentalität auf ihre Fahnen geschrieben hatten wie das Jahr 1968 beweist. Also trifft es wohl nicht so zu mit wehmütiger Erinnerung an alte Zeiten, geht es eher um Werte, nicht um alte Werte, sondern um bleibende. Und was bleibt für die Jugend schon an ideellen Werten in einer Zeit kapitalistischen Wachstums?

Der Titel Die Rittmeisterin ist - in diesem Zusammenhang betrachtet - nicht zufällig gewählt, denn es handelt sich nicht um einen militärischen Rang, sondern es sollen Assoziationen zu ritterlichen Tugenden geweckt werden. Schon in seinem Buch Der letzte Rittmeister (1952) beschreibt Bergengruen einen „wohlgearteten“ Menschen, dem Freude an der Welt, eine edle Gesinnung und Fröhlichkeit im Glauben zu eigen sind und der gleichermaßen ein aufgeschlossener Weltbürger wie ein Don Quichotte ist. „Ihr Rittmeisterbuch ... ist ja ... nicht nur eine Biographie und nicht nur eine Geschichtensammlung, es ist zugleich ... ein Tugendspiegel.“ Das sagt Musa Petrowna, die vom Autor ernannte Rittmeisterin, und das Buch besteht überwiegend aus einem Dialog zwischen dieser Musa Petrowna und Werner Pawlowitsch, dem Autor selbst. Musa Petrowna war die langjährige, platonische Geliebte des letzten Rittmeisters und hatte sich nach Erscheinen des ersten Buches über ebendiesen beim Autor gemeldet und ihn zu sich nach Bern eingeladen.

Bergengruen nennt den Band „Wenn man so will, ein Roman“ , ein Hinweis auf die Vermischung von Fiktivem und Realem, auf „Dichtung und Wahrheit“ . Und der umfangreiche Text beginnt mit den Worten: „Süße, unnennbare Bezauberung!“ Diese Bezauberung geht zunächst ganz konkret von Florenz aus, wo der Autor sich aufhält, stellt aber auch eine Verbindung dar zu seiner Weltsicht, zu seinem dichterischen Credo, denn er schreibt: „Aus welchen Elementen denn sollte sie (die Bezauberin) sich nähren? Aus einem Stückchen Himmel, einem Stückchen Mauer, einem Stückchen Ölbaum. Das wäre alles? Ja, alles, in Wahrheit Alles, das Universum in seiner Essenz.“ Bergengruen, der 1936 zum Katholizismus konvertierte, sah den Beruf des Dichters im Offenbarmachen ewiger Ordnungen, wollte das Einverständnis des Menschen mit der Schöpfung darstellen. Das bedeutet jedoch nicht, daß er für die Bewahrung jeder Ordnung eintrat; die ewige Ordnung enthielt für ihn ein sittliches Postulat, das durchaus in ritterlichen Tugenden zum Ausdruck kommen konnte.

Und wie so oft in der Literatur soll die Schilderung der Kindheit dem Anliegen gerecht werden. In seinen Gesprächen mit Musa Petrowna erzählt Werner Pawlowitsch von jenem fernen ersten Sommer unseres Jahrhunderts, als die Familie Bergengruen ein Holzhaus am livländischen Strand mietete. Das Erlebnis dieser Ferienzeit ist die geschlossenste Erzählung in dem weitverzweigten, anekdotischen Buch. Unvergeßlich das Strandleben, Reitstunden auf Bauernpferden, die drangsalierende Tante Alix mit der obligatorischen Frage: „Hör, Lieberchen, bist du auch ganz, wie du sein sollst?“ , aber auch das erste Verliebtsein in das im Haushalt helfende Mädchen Anze und die Verzweiflung, als Anze den Strandreiter zum Freund erwählt. Dazu das spukende ältliche Fräulein von Trense, das die Leute mit beleuchteten, hohlen Kürbissen erschreckt - und die Gespenstergeschichten, die der angereiste Vetter erzählt. Und die heftige Enttäuschung, als der angehende junge Dichter die Übereinkunft über die Glaubwürdigkeit der Gespensterstorys bricht und eine eigene literarische Erfindung zum besten gibt, die wegen ihrer bemühten Ernsthaftigkeit nur Spott erntet.

Eindrucksvoll auch die Schilderung eines Landes, in dem sich die deutsche Oberschicht und die lettische Bevölkerung gegen die Russifizierung wehren. Mit viel Sympathie schildert er z. B. die lettische Köchin „alte Anna“ , die sich auch liebevoll um ihn und seine Brüder kümmert.

Schon bald muß Werner Bergengruen das heimatliche Riga verlassen; die Familie beschließt, ihn nach Lübeck aufs Gymnasium zu schicken, damit er keine russische Schule besuchen muß. Er hat diese Trennung von der Heimat wohl nie ganz überwunden, immer wieder wird im Buch von den „Entwurzelten“ und den „Eingeborenen“ gesprochen. Die Rittmeisterin Musa Petrowna gehört - wie er - nicht zu den Eingeborenen, von denen er sagt: „Alle Einrichtungen sind für die Eingeborenen geschaffen. Auch die Gesetze sind für sie gemacht worden; deshalb streben alle Gesetze, auch die sich revolutionär gebärdenden, nicht nach Freiheit, sondern nach Verfestigung von Zuständen.“ Dieses Gefühl der Entwurzelung soll durch die intensive Erinnerung an die Kindheit kompensiert werden.

Überhaupt ist für Bergengruen das Erinnern ein Zeichen des Lebens. „... was ist Erinnerung, was ist der Rückgewinn des Vergessenen anders als ein Zeichen des Widerstandes, den wir, obwohl ohne Hoffnung auf einen endlichen Sieg, im Namen des Lebens dem Tode zu leisten haben.“

Und wenn der Tod letztlich eintritt, dann werden „alle Seligkeiten, die wir genossen, alle Gefahren, die wir zu bestehen hatten, alle Verzweiflungen, die wir erlitten, kurz alle Spiele, die wir je gespielt, ... sich uns zusammendrängen in diesen einen Ruf: Süße, unnennbare Bezauberung!“ Mit diesem Bekenntnis zur Unvergänglichkeit menschlichen Lebens als einer Ansammlung von dessen zauberischen Momenten, perlenkettengleich aneinandergereiht und von der Erinnerung fixiert, endet nun auch das Buch und damit der Versuch, Unnennbares zu benennen.

Über die Struktur des Textes heißt es in Kindlers Literaturlexikon (1989): „Eingeschobene Berichte, Kochrezepte, allgemeine Lebensregeln, Anmerkungen im Kleindruck und steter Wechsel der Erzählperspektive lösen jeden Ansatz zu einer linearen Darstellungsweise auf, die nur eine ‚Absage an die Bezauberin der Augenblicke‘ bedeuten würde. ... eine Tendenz zum Erzählen um seiner selbst willen, zum unreflektierten und formlosen Fabulieren ist dabei unverkennbar.“

Wie wichtig Bergengruen diese Darstellungsweise war, die in ihrer Konsequenz das Ende des herkömmlichen Romans bedeutet, ist daraus ersichtlich, daß er der Rittmeisterin einen weiteren Band folgen ließ: Der dritte Kranz (1962), wo eine Mappe aus dem Nachlaß des letzten Rittmeisters auftaucht und Anlaß zu essayistischen Exkursen bietet.

Die Auflösung der linearen Darstellungsweise tat der Beliebtheit dieser Bücher bei den Lesern keinen Abbruch, die sich in die Reflexionen des Autors über - im wahrsten Sinne des Wortes - Gott und die Welt einbeziehen ließen. Wenn aber anfangs über die Bedeutung des Autors für junge Intellektuelle gesprochen wurde, dann gilt das nur für solche aus Westdeutschland. In der DDR war Bergengruen lange Jahre verpönt, vor allem weil er 1919 in der Baltischen Landwehr seiner Heimat gegen die Rote Armee kämpfte. Erst anläßlich des achtzigsten Geburtstages (acht Jahre nach seinem Tod) wurden seine meisterhaften Erzählungen mit dem Titel Der Tod von Reval im Union Verlag, Berlin, veröffentlicht - ein sachkundiges, diplomatisches Nachwort von Georg Antosch ermöglichte das Erscheinen.

„Es ist wichtig, die Gesetzlichkeiten zu erkennen, nach denen ein Menschenschicksal läuft. Die Lebenseinzelheiten ... sind unwichtiger“ , gibt Bergengruen zu bedenken, und heute kann diese Einzelheit aus seinem Leben mit anderen Augen betrachtet werden, wenn auch nicht zu übersehen ist, wie die Baltische Landwehr von den westlichen Interventionstruppen im Kampf gegen die junge Sowjetunion mißbraucht wurde.

Bergengruen, der die zwei Weltkriege erlebte, dessen beide Brüder im ersten Weltkrieg gefallen sind und der in seinem bekannten Roman Der Großtyrann und das Gericht sowie in seinen Gedichten gegen das Naziregime polemisierte, schreibt in der Rittmeisterin: „Im Donner der Geschütze, im Krachen der Bomben ist die alte Zeit verschüttet worden. Die Salutschüsse über ihrem Grabe, waren das zugleich Salutschüsse zur Geburt der neuen?“ Sicher ist er sich dessen nicht, aber er ist optimistisch: „Die Welt ist hell, bei allem Kummer und Jammer, der über einen kommen kann.“

In diesem Sinne ist es von Gewinn, sich mit seinen Büchern auseinanderzusetzen, auch mit der Rittmeisterin, zumal ein gewisser Nachholbedarf bei der Lektüre der Werke dieses wichtigen Schriftstellers unseres Jahrhunderts nicht abzuleugnen ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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