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Ulrich van der Heyden

Ein neues Indianer-Lexikon?

Erfahrungen und Anforderungen
bei der Erarbeitung eines Indianer-Lexikons

Sich den Mühen der Erarbeitung oder selbst der Herausgabe eines Nachschlagewerkes zu unterziehen, sei es nun als Lexikon, Handbuch oder Wörterbuch bezeichnet, setzt voraus, daß sich der oder die Initiatoren sicher sind, daß sie etwas an Wissen zu vermitteln haben. Ob dies dann wirklich der Fall ist, bringen in der Regel erst die Reaktionen auf das gedruckte Werk. Aber ohne diese Einstellung kommt man nicht weit. Da ist die Frage des Verlages und des Büchermarktes nur eine sekundäre. Das wirkliche Interesse, das zweifellos auch am Bedarf des Marktes orientiert ist, läßt sich hingegen am sichersten an den Verkaufszahlen und den Reaktionen der Käufer oder sonstiger Interessierter, sei dies in persönlichen Briefen, Anrufen, Gesprächen oder eben in Besprechungen in Zeitungen und Zeitschriften und bestenfalls in den elektronischen Medien, ablesen.

Nun gibt es in Kreisen der Mutigen, die sich der Erarbeitung eines Nachschlagewerkes oder der verantwortlichen Mitarbeit schon einmal gestellt haben, die sicherlich nicht unbegründete Meinung, daß eigentlich nur diejenigen, die selbst schon einmal an einem Nachschlagewerk maßgeblich mitgearbeitet haben, auch berechtigt seien, ein solches Werk zu begutachten oder zu kritisieren. Denn neben die sachlich zu vermittelnden Informationen gehört auch die Übersicht über all die erarbeiteten Stichworte, damit diese untereinander inhaltlich und, nach Möglichkeit und Erfordernis, formal abgestimmt sind. Das wissen die wenigsten Leser. Da sind Fragen der Kompetenz der Autoren, Hinweise und Wünsche des Verlages nach der Gewichtung (leider gibt es im menschlichen Wortschatz mehr Substantive aus der ersten Hälfte des Alphabets) und inhaltliche Fragen zu berücksichtigen, ganz zu schweigen von den Diskussionen über unterschiedliche Auffassungen zu den verschiedensten Problemen und Fragestellungen. So ist die eben genannte Meinung nicht ganz ungerechtfertigt, zumal selbst einige Buchautoren für ihr Genre dasselbe fordern. Wenn diese, sicherlich nicht ganz ernst gemeinte, Forderung jedoch Realität werden würde, gäbe es allerdings wohl kaum noch Rezensenten in den einschlägigen Tageszeitungen, wissenschaftlichen wie populären Journalen, in den elektronischen Medien und in Jahrbüchern. Für Kritiker von „Wörterbüchern“ trifft es in gewisser Weise zu, denn wo setzt der Rezensent eines Nachschlagewerkes in aller Regel zuerst an (und der Autor dieses Beitrages nimmt sich da durchaus nicht aus), natürlich bei den Auslassungen bzw. nicht aufgenommenen Lemmata. Und er hat zumeist mit dieser Kritik auch recht. Wenn nämlich der Literaturkritiker etwas in einem speziellen Nachschlagewerk sucht und nicht findet, kann es ja immerhin auch einem Dutzend anderer Leser so ergehen. Und die Lexikon-Macher haben keine Gelegenheit, ihre Beweggründe für das Weglassen des einen oder anderen Stichwortes zu erläutern. Um Kritiken vorzubeugen, versucht der verantwortliche Lexikon-Autor, soviel wie möglich Stichwörter aufzunehmen, aber im Umfang so gering wie möglich zu halten. Und schon ist damit ein neuer Angriffspunkt der Kritik geschaffen worden! Grund zum Seufzen oder Schmunzeln gibt es immer dann, wenn Kritiker die angebliche Bevorzugung einer Sachgruppe von Stichwörtern oder auch nur die Aufnahme von einzelnen Lemmata kritisieren und meinen, daß man darauf hätte verzichten können oder gar müssen. Zumeist wird dann auch gleich vorgeschlagen, eine andere Sachgruppe doch bitte stärker zu beachten. Solcherart konstruktive Kritik könnte sicherlich von Vorteil sein, falls an eine Überarbeitung und Neuauflage des Werkes gedacht wird, aber sie verliert jeden Sinn, wenn an anderer Stelle von einem ebenso ernst zu nehmenden Rezensenten gerade die umgekehrten Gewichtungen eingefordert werden. Außerdem scheint es geradezu unmöglich zu sein, die Rezensenten von Nachschlagewerken, von denen sich sowohl die Leser als auch der Rezensent kurze und prägnante Informationen erhoffen, dazu zu bewegen, die zumeist vorhandenen Vorworte zu lesen, in denen ja schon einiges zu den Auswahlkriterien und auch ansonsten für den Umgang mit dem Werk nützliche Hinweise zu finden sind. Aber das kann man kaum von solchen Literaturkritikern erwarten, die nur nach den angeblichen Auslassungen und Ungewichtungen Ausschau halten. Wenn sie nämlich die Vorworte lesen würden, wäre die Luft aus ihrer Kritik heraus. Also werden oft die Desiderata, die im Vorwort bereits skizziert und benannt sind, noch einmal als Ergebnis der Recherche des Rezensenten aufgeführt. Eigentlich ein verständliches Herangehen, für all diejenigen, die von der zu bewertenden Thematik nicht viel Ahnung haben, aber unverständlich ist diese Herangehensweise für Rezensenten, die eigentlich in der Materie stehen müßten.

So haben es also die Lexikon-Herausgeber und -Autoren nicht eben leicht.

Aber diese Zeilen sollen kein Aufschrei eines sich von der Kritik ungerecht behandelt fühlenden Lexikon-Herausgebers sein. Vielmehr will der Autor dieser Zeilen nachweisen, für die Besprechung eines Indianer-Lexikons doch einige Kompetenz mitzubringen, da er vor einiger Zeit schon selbst ein solches herausgegeben hat (Indianer-Lexikon. Zur Geschichte und Gegenwart der Ureinwohner Nordamerikas. Berlin 1992) und sich somit der Mühsal und der Anfechtungen solch eines Unternehmens voll bewußt ist.

In meiner Besprechung geht es um Das neue Indianerlexikon von Kuno Mauer (Das neue Indianerlexikon. Die Macht und Größe der Indianer bis zu ihrem Untergang. Langen Müller, München 1994), das nach dem Lexikon von H. J. Stammel (Der Indianer. Legende und Wirklichkeit von A-Z. München 1989) als weiterer Konkurrent auf dem deutschsprachigen Büchermarkt erschien. Aber dieser Konkurrenzfaktor mag nur für den Verlag eine gewisse Bedeutung haben; der Verfasser dieses Beitrages geht unvoreingenommen an die Bewertung eines solchen Werkes. So war auch die erste Reaktion, als ich vom Erscheinen des Buches hörte, eine freudige und neugierige - hatte sich doch da noch jemand an diese Problematik herangewagt, und vor allem war für mich wichtig, wie dieser Kollege die schon kurz umrissenen Probleme gelöst hatte. Als ich dann das Buch in den Händen hielt, war ich doch zunächst erstaunt: Versuchen doch die Verlage - so meine Überlegung - alles Mögliche (und Unmögliche) zu tun, um ihr Produkt zu verkaufen. Dieser Band, ediert im Verlag Langen Müller, besitzt einen verdrehten Einband, so daß das Buch von hinten gelesen werden muß. Allerdings bin ich mir in der Zwischenzeit nicht mehr sicher, ob es sich nicht doch um ein Versehen der Buchbinderei gehandelt hat und nicht um einen Werbegag. Aber, wie sich zeigen sollte, die Ausstattung entsprach dem Inhalt. Warum?

Zunächst sei festgestellt, daß das Lexikon zu fast 90 Prozent aus Stichworten zu indianischen Persönlichkeiten und ethnischen Bezeichnungen besteht, also kaum den Anspruch eines allumfassenden Nachschlagewerkes, was ein Lexikon ja sein sollte, erheben kann. Auch aus dem Untertitel wird nicht deutlich, daß es sich hier um die Indianer Nordamerikas handelt. Nach wie vor steht also ein populäres Nachschlagewerk, das sich der Indianer Lateinamerikas annimmt, auf dem deutschsprachigen Büchermarkt noch aus.

Aber kehren wir zu dem „neuen Indianerlexikon“ zurück. Betrachtet man den Untertitel „Die Macht und Größe der Indianer bis zu ihrem Untergang“ etwas genauer, so treten hier schon Fragen und einige Zweifel über die Seriosität dieses Werkes auf. Zunächst scheint die Frage berechtigt zu sein, wie in Form eines Nachschlagewerkes die „Macht und Größe“ einer ganzen Bevölkerung dargestellt werden kann. Abgesehen von der schon erwähnten Tatsache, daß hier nur die nordamerikanischen Indianer behandelt werden, ist auch zu fragen, von welcher Größe welcher Indianer hier geschrieben wird. Und waren d i e Indianer eine Macht? Eine kulturelle, eine politische oder gesellschaftliche, eine zeitweilige oder dauerhafte?

Weiterhin ist zu fragen, welcher „Untergang“ gemeint ist. Sind die Indianer mit dem Ende der territorialen Westexpansion, also etwa mit dem Massaker von Wounded Knee, „untergegangen“ oder schon mit der sogenannten Indianerschlacht am Little Big Horn? Oder sind die Indianer erst in den heutigen Tagen „untergegangen“ ?

Also Fragen über Fragen allein schon beim Titel. Schon der erste Satz des Vorwortes wirft Probleme für einen objektiven Rezensenten auf. Da stellt sich nämlich der Verfasser selbst als „autodidaktischer Japanologe“ vor und meint, daß er aus ebendiesem Grunde „das Geheimnis der indianischen Seele“ (Mauer S. 3) unschwer erforschen könne. Wenn er jedoch bei der Erforschung der indianischen Seele ebensolche Schwierigkeiten hat wie bei der Anwendung und Erfassung ethnologischer und anderer wissenschaftlicher Termini und Zusammenhänge, dürften starke Zweifel angebracht sein. Und in der Tat werden diese dann beim Lesen der Lemmata verstärkt, und schon bald wird die Unseriosität des vorliegenden Buches durchgehend deutlich.

Schon das erste Stichwort „Aatsosni“ (S. 9) läßt bereits jeden einigermaßen völkerkundlich oder historisch Gebildeten erschauern, denn hierunter versteht Mauer einen großen und mächtigen „Sippenclan“ der Navajo. Vermutlich weiß der Autor selbst nicht, was er damit meint, denn auch bei den anderen ethnischen Stichworten werden von ihm Begriffe verwendet, die die Unkenntnis deutlich genug dokumentierten. In nicht zu durchschauender (Un-)Systematik werden außer dem zitierten kuriosen Terminus auch solche wie Stamm, Volk, Unterstamm, Untergruppe, Sippe, Horde, Lokalgruppe, Nation, Volksstamm, Zweigstamm in einem nicht zu durchschauenden Durcheinander verwendet. Wenn es denn eine Sprachgruppe gibt, so vermutlich die Überlegung des Lexikon-Autors, warum denn nicht auch eine Dialektgruppe? (S. 398) Den Höhepunkt der in diesem Buch demonstrierten Unkenntnis stellt wohl das Stichwort „Bande“ (S.27) dar. Mit seiner gelieferten Definition der „indianischen Banden“ weiß der Autor wohl selbst nicht viel anzufangen, denn bei den Erläuterungen der ethnischen Stichworte benutzt er diesen Begriff kaum. Dafür erfindet er fleißig weitere Termini, etwa „Clan- und Hordengruppierungen“ (S. 47) oder „Außenseiter-Stamm“ (S. 59, passim).

Wie es in einem Indianer-Lexikon nicht anders sein kann, schreibt Mauer oft über Reservate; wohlgemerkt Reservate (und damit meint er nicht etwa Tierreservate) und nicht Reservationen. Allerdings findet der Leser in dem Lexikon dann nicht etwa das Stichwort Reservat, sondern Reservation, unter dem jedoch vermerkt wird, daß Reservationen auch Reservate genannt werden. Abgesehen davon, daß dies - zumindest in der seriösen Wissenschaft und Publizistik - nicht zutrifft, sollte man sich endlich befleißigen, die Indianer-Reservationen nicht immer mit Tier-Reservaten - wenn auch nur wörtlich - gleichzusetzen. Weitere Argumentationen bedarf dieser Fakt wohl nicht mehr!

Schwer benutzbar (vorausgesetzt man entschließt sich, dieses auch in den Fakten oft Lücken und Fehler aufweisende Werk zu konsultieren) wird das Lexikon schon dadurch, daß sich der Autor nicht der Mühe unterzogen hat, in die Texte Verweiszeichen auf andere in dem Band erläuterte Stichworte aufzunehmen. Nur ab und an findet sich in Klammern der Verweis auf ein anderes, den Sachverhalt näher oder ergänzend beschreibendes Lemma. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. So wird nach der Erklärung des Stichwortes „Köcher“ auf den Begriff „Guiver“ verwiesen, den der Leser allerdings in diesem Lexikon nicht finden wird. Mit etwas Glück und Ausdauer sind jedoch unter dem Stichwort „Quiver“ einige Ausführungen zu finden, die die gesuchten sein könnten.

Die meisten Personen-Stichworte sind ohne Nutzen und sollen wohl nur die Belesenheit des Autors zum Ausdruck bringen, denn sie lesen sich wie bei der Lektüre von nicht einmal guter oder zuverlässiger Indianerliteratur aufgefunden und aufgeschrieben. Es fehlt jede wichtige Information zu der Bedeutung der Handlungsträger, ja selbst eine Zeitangabe der Handlung, von exakten Lebensdaten ganz zu schweigen, sucht man in den meisten Fällen vergebens. So findet der Leser unter den Stichworten Big Elk: „(Großer Elch) Ponca-Häuptling“ oder zu Big Mouth: „(Großer Mund) Häuptling der Arapaho und treuer Anhänger von Little Raven“ oder zu Dohasan: „Er war der letzte große Oberhäuptling der Kiowa.“

Auf die Sachfehler einzugehen würde zu weit führen. Nur einige wenige seien aufgeführt. Da wird zum Beispiel behauptet, in „frühgeschichtlicher Zeit“ seien Blasrohre verwendet worden. Dies stimmt sicherlich auch für die frühgeschichtliche Zeit, was immer das heißen mag, aber die Fotos von Indianern mit Blasrohren - so unter anderem in dem Stammelschen Lexikon (S. 209) veröffentlicht - stammen sicherlich nicht aus einer Zeit, die als „frühgeschichtlich“ bezeichnet werden kann.

Unter dem Stichwort „Lendenschurz“ wird festgestellt, daß dieser in späteren Zeiten „auch aus Baumwolle oder Kattun“ gefertigt worden sei. Dem Autor wäre in diesem Falle die Benutzung eines allgemeinen Lexikons angeraten, um sich den nicht vorhandenen Unterschied zwischen diesen beiden Geweben deutlich machen zu lassen.

Auch der Stil und die innere Logik bei so manchen Texten lassen zu wünschen übrig. Wußten Sie schon, daß es „überlieferte weise indianische Lehren“ (Mauer S. 378) gibt?

Diese und andere Weisheiten sind diesem „neuen Indianerlexikon“ zu entnehmen, dessen Lektüre nicht nur betroffen ob der mangelnden Sachkenntnis des Autors macht, sondern auch ob der Dreistigkeit, solcherart Elaborat einem Verlag anzubieten.

Generell ist es meine Einstellung - gerade weil ich weiß, wie schwer es ist, ein Buch zu schreiben -, an jeder Publikation das Positive zu sehen, ihr Erscheinen zu bejahen, auch wenn sie die eine oder andere Kritik verdient. Das gilt insbesondere, wie ich versucht habe, zu Beginn des Beitrages deutlich zu machen, bei Nachschlagewerken. Deshalb fällt es mir nicht leicht, ein so negatives Urteil über ein Buch zu fällen. Denn es ist ein schwerwiegender Vorwurf, wenn man sagen muß, daß ein Buch besser nicht geschrieben worden wäre und Autor und Verlag lieber für die aufgewendete Zeit und die verbrauchten Finanzen etwas andere hätten tun sollen. Aber dieses Buch von Kuno Mauer verdient kein anderes Urteil.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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