Über den Deutschen Reichstag als parlamentarische Vertretung, mehr noch über das 1894 eröffnete Reichstagsgebäude und seine wechselvolle Geschichte, ist bereits viel geschrieben worden. Michael S. Cullen, der beste Kenner der Materie, hat mehrere Bücher über das Haus veröffentlicht. Die Verhüllung des Reichstagsgebäudes im vergangenen Jahr durch Christo und seine Frau Jean-Claude erregte weltweites Aufsehen. Der eine dreistellige Millionensumme verschlingende Umbau hingegen wird nur noch am Rande registriert. Das vom Autor dem Künstlerpaar schon vor vielen Jahren vorgeschlagene Projekt Wrapped Reichstag und Angaben über den Umbau für die Zwecke des Deutschen Bundestages bilden das Schlußkapitel dieses hervorragend mit Bauakten, Tabellen und Biographien versehenen Buches, dessen Illustrierung durch Bauzeichnungen, Entwürfe, Szenen aus der Arbeitswelt, aber auch Porträts und Bildern von Staatsakten sowie zahlreichen Außen- und Innenaufnahmen besticht. Auch hier ist bei der Suche nach unbekannten Bildern Erstaunliches geleistet worden. Die spektakuläre Verhüllung und ihr Widerhall bei den Zuschauern und in der Kunstkritik ist in dem im Mai 1995 fertiggestellten Manuskript nicht mehr berücksichtigt. Darüber zu berichten, sollte Aufgabe einer zweiten Auflage sein. Die Christos planen nach eigenem Bekunden eine Publikation über ihr Werk in Berlin.
Michael S. Cullen holt bei seiner gut gegliederten, durch ein Personen- und Firmenregister erschließbaren Darstellung weit aus. Die Historie ist die besondere Stärke des agilen Autors. Sein Prolog und das erste Kapitel Reichstagsprovisorien 1871-1894 behandeln die Aufgaben der Staatsorgane des 1871 gegründeten Kaiserreiches, reißen die Entwicklung Berlins in jener Zeit an, nennen die obersten Volksvertretungen und beschreiben ihre lange Zeit kaum zumutbare Unterbringung. Für den Leser kaum nachvollziehbar ist die ursprüngliche Bebauung des Königsplatzes mit der Siegessäule und des sich anschließenden Spreebogens. Hier, auf dem Gelände des Palais Raczynski, wurde nach langwieriger Standortsuche der Platz für das Reichstagsgebäude gefunden. Dem ausführlich beschriebenen Reichstagsbau-Wettbewerb von 1872 folgte zehn Jahre später eine weitere Ausschreibung, die der Architekt Paul Wallot (1841-1912) gewann. Anhand der gedruckten und der ungedruckten Quellen schildert Cullen die Wettbewerbsbedingungen und -modalitäten, die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Jury sowie die Ergebnisse des Ausscheidens. Nachzulesen sind auch Angaben über die nicht prämierten Einsendungen.
Wallot sollte mit dem Auftrag nicht glücklich werden. Zwar war der Deutsche Reichstag Bauherr seines Hauses, doch machten sich Kaiser Wilhelm I. und - ab 1888 - sein Enkel Kaiser Wilhelm II. den Bau zu eigen und zwangen den nach Berlin übergesiedelten Architekten zu schmerzhaften Abstrichen und Veränderungen. Cullen versteht es, den spröden Stoff der Metamorphosen übersichtlich zusammenzufassen und dabei auch ein Stück Zeitgeist, die Abneigung der führenden Schicht in Preußen-Deutschland gegenüber dem Parlament und seinem Haus, darzulegen. Daß Wilhelm II., der sich in Sachen Kunst als letzte Instanz verstand, die oberste Volksvertretung insgeheim Reichsaffenhaus titulierte und dem Architekten die kalte Schulter zeigte, wird ebenso dokumentiert wie die ständigen Eingriffe höfischer Beamter in den Bauablauf und einzelne Gestaltungsfragen bis hin zur Höhe der Kuppel oder der Wahl der Inschrift überm Portal. Wallot konnte seinem Ärger nur in Briefen an Freunde Luft machen. Die Zitate beschreiben deutlich die Dissonanzen zwischen Geist und Macht. Der unverhohlene Widerwille des Kaisers veranlaßte den Architekten, Berlin so schnell wie möglich den Rücken zu kehren.
Nach Darlegungen über die Ausgestaltung des Reichstagsgebäudes und die Arbeit des Parlaments bis 1933 widmet Cullen ein weiteres Kapitel dem Reichstagsbrand, dem Prozeß gegen van der Lubbe, Dimitroff und Genossen und dem Schicksal des Hauses in der NS-Zeit. Beim Aktenstudium fand der Verfasser Hinweise auf einen Sprengstoffanschlag im Jahre 1929. Cullens Untersuchungen über den Reichstagsbrand enthalten nicht viel Neues, können es wohl auch nicht. Wenn Marinus van der Lubbe ganz allein und ohne Hilfe das Reichstagsgebäude angezündet hat, dann haben die Nazis ihre unverhoffte Chance sofort erkannt und ihre Pläne mit großem Erfolg durchgeführt. Wenn aber Göring das Feuer gelegt haben soll, so wissen wir, wie sehr diese Leute entschlossen waren, aus dem Land der Dichter und Denker ein Land der Richter und Henker zu machen.
Als der gleichgeschaltete Reichstag in der Krolloper Hitlers Tiraden applaudierte, war das Reichstagsgebäude notdürftig repariert. Hier fanden Propagandaausstellungen, etwa zu Bolschewismus ohne Maske (1937), statt. Interessanterweise verhinderte Hitler den Abriß des in großen Teilen intakten Hauses. Die von Hitler und Speer geplante Große Halle hätte das Brandenburger Tor und das Reichstagsgebäude auf die relative Größe einer Außentoilette reduziert, schreibt Cullen. Wie sollte man zeigen, wie groß die Halle ist, wenn man keine Maßstäbe hat? So blieb dem Reichstag die Spitzhacke erspart ...
Das vorletzte Kapitel befaßt sich mit dem reduzierten Wiederaufbau des in den letzten Kämpfen in Berlin schwer beschädigten Hauses, das für die Rote Armee einen einzigartigen Symbolwert besaß. Nicht umsonst wurde das Sowjetische Ehrenmal im Tiergarten, gleich nebenan, errichtet. Daß der Umbau durch den Architekten Paul Baumgarten nach dem Krieg den heutigen Parlamentariern nichts wert ist, zeigt dessen rigorose Beseitigung. Cullen bedauert das Paradoxon, daß die Neuschöpfung im Inneren bisher weniger gut dokumentiert ist als der Wallotsche Bau. Erst 1994 begann die Sichtung der Unterlagen.
Im Epilog übt Cullen verhaltene Kritik an den Umbauplänen. Ihm wäre es lieber, das Haus bekäme seine alte Kuppel zurück und der Plenarsaal würde kleiner werden. Den Politikern schreibt er ins Stammbuch: Es liegt nicht an den Architekten, wenn der Parlamentarismus einen besseren oder schlechteren Ruf genießt, sondern an den Politikern selbst. Wenn das Reichstagsgebäude - als Bundestagshaus oder Bundeshaus - die Achtung genießen soll, die ihm gebührt, dann müssen die Bundestagsabgeordneten heute und morgen den Demokratiebegriff mit dem Ethos erfüllen, der ihm immanent ist; erst dann wird der Wallot-Foster-Bau zum Sinnbild von Vergangenheit und Zukunft, das die Reichstagsgründer 1871 einst beabsichtigt hatten; dann erst gehört das Haus wirklich ,Dem Deutschen Volke‘.