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Reisender, kommst du
nach Berlin ...,

... zieht es dich gewiß gen Osten, Berlins ältestes Pflaster zu treten oder den Berliner Dom zu betreten, auf der denkmalgeschützten Straße, der Karl-Marx-Allee (früher Stalinallee, noch früher Frankfurter Allee), zu promenieren. Und kommt es dir in den Sinn, daselbst in eine Buchhandlung einzutreten, um dir die Stadt auch in Wort und Bild vor Augen zu führen, gar eine Auswahl treffen zu wollen aus all den Büchern, die sich da bunt und vielgestaltig und meist augenfällig mit den Großbuchstaben BERLIN werbend in den Regalen drängen, so sei auf der Hut.

Denn leicht kann es dir ergehen, wie unlängst zwei Vorausschauern für dieses Heft, und das ging unter die Hutschnur.

Sie und Er betraten in der Karl-Marx-Allee die Buchhandlung gleichen Namens. Sie offerierten der freundlichen Verkäuferin ihr Begehr, nämlich, sich über das aktuelle Angebot an Berlin-Literatur informieren zu wollen, um einige Bücher in der Literaturzeitung „Berliner LeseZeichen“ vorzustellen. Sie schauten sich an, was da im Regal stand, dies und das als Empfehlung für den zukünftigen Leser und Berlin-Touristen in Erwägung ziehend. Sie taten das in leisem Gespräch in der ansonsten leeren Buchhandlung. Nur abseits stand ein Mann, einzeln bei sich, und observierte sie. Das ging so ein Weilchen, während sie sich Notizen machten. Dann aber, von plötzlicher Aufwallung des Gemüts getrieben, trat er heftig hinzu, verlangte Namen und Dienststelle unserer verblüfften Anschauer zu erfahren, ohne sich selbst vorzustellen, ließ sich endlich, nachdem er Auskunft erhalten hatte, dazu herbei, den Geschäftsführer der Buchhandlung (der Karl-Marx-Buchhandlung) zu nennen. Sie und Er erklärten auch ihm, freundlich und sachlich, ihr besonderes Interesse für die Berlin-Führer und ihr höheres Ziel.

Geschäftsführer jedoch stieß hervor: „Ich sehe jetzt seit einer Viertelstunde, wie Sie ein Buch nach dem anderen in die Hand nehmen!“

Sie versuchte, heiter darauf hinzuweisen, daß die Ausstellung der Bücher in den Regalen der Buch-hand-lung doch den Zweck verfolge, daß sie von Interessenten gesehen und zur Hand genommen würden.

Geschäftsführer aber preßte zornbebend hervor: „Das paßt mir nicht!“

Er, in dem Glauben, in ihrem buch- und handelfreundlichen Vorhaben doch nicht recht verstanden worden zu sein, setzte zu einer wiederholenden Erklärung an und wies seine sauberen Hände vor. Aber Geschäftsführer verharrte auf seiner Position, es gehöre sich nicht, ins Buch, in die Bücher zu schauen.

Sie, noch immer bestrebt, dem Appell des Mannes, die Finger von den Büchern in seinen Regalen zu lassen, argumentierend begegnen zu können, wies ihn auf seine Stellung in der Konkurrenz hin: „Die Informationen, um die es uns geht, könnten wir uns auch in jeder anderen Buchhandlung besorgen.“

„Es wäre mir lieb“ , sprach Geschäftsführer mit starrem Blick.

Sie, generell vom Menschen das Beste glaubend und der neuen Kundenfreundlichkeit vertrauend, vergewisserte sich: „Was wäre Ihnen lieb?“

Und Geschäftsführer sagte es. Er sagte: „Es wäre mir lieb, wenn Sie in eine andere Buchhandlung gingen!“

Das taten die beiden denn auch. Sie gingen ein paar Häuser weiter, in die Buchhandlung „Atlantis“. Und das war für ihren Zweck auch eine viel bessere Adresse.

Also, Reisender, kommst du nach Berlin und willst ein Defizit an Berlin-Literatur decken - sie sei dir empfohlen, vor allen anderen. Der Filialleiter der Buchhandlung „Atlantis“ , Herr Seifert, rechnet sich die sachkundige Beratung zur Berufsehre an.

Irene Knoll




Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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