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Frank-Lothar Kroll

Fontane und Bismarck1

Das Thema „Fontane und Bismarck“ bietet vielfältige Möglichkeiten einer historischen und literaturgeschichtlichen Annäherung. Mehrfach ist es in den vergangenen Jahrzehnten aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet worden - 1967 von Walter Müller-Seidel, 1970 von Kenneth Atwood, 1972 von Hans-Joachim Schoeps, 1983 von Ekkhard Verchau, zuletzt 1997 von Gordon A. Craig. Diesen unterschiedlichen Analysen und Interpretationen der historischen und literaturwissenschaftlichen Forschung soll nun nicht noch eine weitere Deutungsvariante hinzugefügt werden. Es gibt keine grundsätzlich neuen Quellenfunde, die eine Revision der älteren Auffassungen erforderlich machen würden, und auch die allgemeine politisch-historische Bewußtseinslage hat sich im vereinigten Deutschland seit 1990, entgegen manchen Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen, nicht derart gewandelt, daß man dem Verhältnis des Dichters der deutschen Einheit im 19. Jahrhundert zum Begründer der deutschen Einheit im 19. Jahrhundert heute mit wesentlich anderen Urteilsmaßstäben begegnen müßte als in den 1960er oder 1970er Jahren.

Vielmehr soll das Thema des „politischen Fontane“ hier in der Konzentration auf die Einschätzung jenes Mannes seitens des Dichters vertieft werden, der dessen ganzen Lebensweg begleitet und sehr wesentlich geprägt hat, des Mannes, dessen Person und Politik für Fontane eine Art Lebensschicksal gewesen ist, ein Lebensproblem, das in d r e i aufeinander aufbauenden Erkenntnisschritten erörtert werden kann. Zunächst (I.) soll ein kurzer Blick auf die äußere Entwicklung der Beziehungen zwischen Dichter und Staatsmann die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen verdeutlichen, unter denen sich ihrer beider Begegnung im Zeitalter der deutschen Nationalstaatsgründung vollzog. Dann (II.) soll im Blick auf einzelne ausgewählte Werke Fontanes der Stellenwert zu verorten versucht werden, den die Gestalt des preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzlers für den Dichter besessen hat - nicht nur im Rahmen reflexiver Erörterung in Briefen, Gesprächen und Aufzeichnungen, sondern auch im Binnengefüge vieler, ja der meisten der großen Romane. Schließlich (III.) ist in einer Art Strukturanalyse das Bild nachzuzeichnen, das sich Fontane von Bismarck im Lauf einer fünfzigjährigen Zeitgenossenschaft gemacht hat: von der Persönlichkeit des Reichskanzlers, seiner Politik, ihren Möglichkeiten und ihren Grenzen - eingebettet in Fontanes Einstellung zu Preußen und zum Preußentum allgemein und unter Berücksichtigung seiner Gegenwartsanalyse und seiner Zeitkritik.

I. Fontane (Jahrgang 1819) und Bismarck (Jahrgang 1815) hatten, was die Wirkmächtigkeit ihres Schaffens betraf, den gleichen Ausgangspunkt. Die Anfänge des Schriftstellers und die Anfänge des späteren Reichskanzlers standen gleichermaßen im Zeichen der Revolution von 1848. Allerdings vertraten beide seinerzeit einen diametral entgegengesetzten Standpunkt. Fontane war, wie man den Aufsätzen in der „Berliner Zeitungshalle“, den Artikeln in der „Dresdner Zeitung“ und zahlreichen seiner damaligen Briefe und Aufzeichnungen entnehmen kann, ein Parteigänger der Revolution, während sich Bismarck gerade als einer ihrer entschiedensten Gegner profilierte und in dieser Eigenschaft als gegenrevolutionärer Abgeordneter erstmals die Aufmerksamkeit größerer politischer Kreise in Preußen erregte. Allerdings waren dann kurze Zeit später beide, Bismarck und Fontane, zumindest nominell, in gleicher Richtung tätig: Bismarck als Bundestagsgesandter der reaktionären preußischen Regierung Manteuffel in Frankfurt am Main, Fontane als Mitarbeiter der Presseabteilung eben jener reaktionären preußischen Regierung Manteuffel, zunächst (1850) als Angestellter im Literarischen Büro des preußischen Innenministeriums, dann (1851) in der Zentralstelle für Presseangelegenheit und schließlich (1855) als Presseagent und -korrespondent der preußischen Regierung in London. Diese zunächst ungewöhnlich scheinende Bindung erfolgte, wie übrigens auch Fontanes spätere Betätigung als England-Redakteur der streng konservativen „Neuen Preußischen Zeitung“ zwischen 1860 und 1870, zwar auch, jedoch nicht nur aus finanziellen Erwägungen. Schon damals, beim jungen Fontane, verbanden sich demokratische und konservative, deutsch-nationale und altpreußische Gesinnung zu einem eigentümlichen Amalgam, das auch in reiferen Jahren einen charakteristischen Zug im Denken des Dichters ausmachen sollte.

Den Gedanken der deutschen Nationaleinheit jedenfalls hat Fontane auch damals schon lebhaft gut geheißen, und so war es ihm leicht, in den Kriegen Preußens gegen Dänemark 1864, gegen Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870/71 voll auf die Seite Bismarcks zu treten. Er hat dabei die preußischen Siege in Gedichten gefeiert, die dem heutigen Publikumsgeschmack allerdings nicht mehr entsprechen dürften - etwa das Gedicht „Der Tag von Düppel“, in welchem man so feinsinnige Sprachwunder findet, wie dieses: „Der preußische Schneider, meiner Treu, / Brach den dänischen Anker entzwei ... Die Preußen sind die alten noch / Du Tag von Düppel lebe hoch!“

In den Kriegsbüchern von 1870/71 (Kriegsgefangen, 1871; Aus den Tagen der Okkupation, 1871; Der Krieg gegen Frankreich, 1873 bzw. 1875/76) trat Fontane für die Politik des preußischen Ministerpräsidenten ein, wo immer sich dazu eine Gelegenheit bot. Und auch Bismarck hat sich in jenen Tagen aktiv für den Dichter engagiert: Fontane verdankte seine Freilassung aus zweimonatiger französischer Kriegsgefangenschaft - er war bekanntlich im Oktober 1870 in Domremy festgenommen und dann in verschiedenen westfranzösischen Ortschaften interniert worden - der persönlichen Intervention des preußischen Ministerpräsidenten, dessen Verhältnis zu Fontane ansonsten allerdings ein eher unausgeprägtes gewesen ist.

Es gibt nur einen einzigen Brief Bismarcks an den Dichter, und auch dieser Brief - datiert vom 26. November 1867 - ist vom damaligen Kanzler des Norddeutschen Bundes nur unterschrieben worden, verfaßt hat ihn Bismarcks Mitarbeiter Lothar Bucher: „Euer Wohlgeboren“ - lesen wir da -, „danke ich verbindlich für die Übersendung Ihrer neuesten Arbeit, der deutsche Krieg von 1866, von der ich mir in der Erinnerung an das Interesse, mit dem ich Ihre Wanderungen durch die Mark gelesen, und im Hinblick auf die gelungene artistische Ausstattung, eine besonders anziehende Lektüre verspreche.“ Das ist, unschwer erkennbar, nicht Bismarckscher Stil, und man mag des Kanzlers Nichtverhältnis zu Fontane vielleicht ein Stück weit mit jener reservierten Einstellung erklären, die Bismarck gegenüber dem Berufsstand des Intellektuellen generell hegte. Kein soziologischer Typus dürfte dem ersten deutschen Reichskanzler zeitlebens ferner gestanden haben als derjenige einer gesellschaftlich freischwebenden, ideell ungebundenen, die Macht des geschriebenen Wortes souverän handhabenden Geistigkeit - obgleich doch die Beziehungen des Kanzlers zu den führenden Intellektuellen seiner Zeit, Repräsentanten des kulturellen, geistigen und wissenschaftlich Lebens gleichermaßen, außerordentlich rege und vielfältig gewesen sind und obgleich, wie man weiß, Geistigkeit und Bildung zum integralen Bestandteil Bismarckschen Wesens gehörten.

Bismarcks Bildung wies über den für einen pommerschen Landadligen des 19. Jahrhunderts geläufigen Rahmen weit hinaus. Zeitlebens beschäftigten ihn die Dramengestalten Shakespeares und die düsteren Helden der Dichtungen Byrons. Vor seinem Eintritt in die Politik hatte er sich in zumeist autodidaktischem Studium einen beachtlichen Bildungshintergrund erworben, hatte sich mit Goethe, Schiller und Jean Paul beschäftigt, zeitgenössische deutsche Lyrik von Chamisso und Rückert über Uhland und Lenau bis zu Freiligrath, Herwegh und Heine gelesen, hatte Hegel, Spinoza sowie die Werke der Junghegelianer studiert. Doch all das war für ihn weder Selbstzweck noch unterhaltsamer Kunstgenuß gewesen, und es hatte auch nicht nur der Befriedigung jeweils vorherrschender Gemütsbedürfnisse gedient. Rezeption von Literatur erfolgte bei Bismarck stets in direkter oder indirekter politischer Bezüglichkeit. Dies galt auch für die Lektüreerlebnisse späterer Jahre. So zog ihn beispielsweise an den von ihm gern gelesenen Werken Fritz Reuters und Julius Stindes vor allem die realistische Schilderung des Alltagslebens an, der sich lehrreiche Beispiele für eine adäquatere Handhabung zeitgenössischer Sozialverhältnisse entnehmen ließen. Und die Dichtungen des patriotischen Schriftstellers Oskar von Redwitz schätzte er, weil sie der Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls der 1871 politisch geeinten deutschen Nation dienlich schienen. Fontanes Werke boten in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit, aber auch in ihrem kritischen Potential nur bedingt Ansätze für eine derart zweckbezogene Funktionalisierung von Literatur und mögen dem Reichskanzler vielleicht auch deshalb eher ferner gestanden haben.

II. Im Unterschied zur quellenmäßigen Dürftigkeit der Erwähnung Fontanes bei Bismarck steht die Vielzahl der Äußerungen Fontanes über Bismarck in Briefen, Gedichten und Erzählungen. Es gibt kaum ein episches Werk des Autors, in dem Bismarck nicht erwähnt wird. Fontane selber schrieb in einen Brief an Maximilian Harden 1894: „In fast allem, was ich seit [18]70 geschrieben, geht der ,Schwefelgelbe‘ um und wenn das Gespräch ihn auch nur flüchtig berührt, es ist immer von ihm die Rede wie von Karl oder Otto d[em] G[roßen].“ Schwefelgelb war übrigens die Kragenfarbe des 7. Halberstädter Kürassierregiments, dessen Chef Bismarck gewesen ist.

Fontane schrieb vier Gedichte, die das Phänomen „Bismarck“ zum Gegenstand hatten: zwei zum 70. Geburtstag 1885 - „Jung-Bismarck“ und „Zeus in Mission“, beide Gedichte feierten den Einiger Deutschlands -, dann einen Vierzeiler zum 75. Geburtstag 1890 „An Bismarck“ und schließlich, vier Tage nach Bismarcks Tod 1898 „Wo Bismarck liegen soll“:

    Nicht in Dom oder Fürstengruft,
    Er ruh' in Gottes freier Luft
    Draußen auf Berg und Halde,
    Noch besser: tief, tief im Walde;
    Widukind lädt ihn zu sich ein:
    „Ein Sachse war er, drum ist er mein,
    im Sachsenwald soll er begraben sein.“

    Der Leib zerfällt, der Stein zerfällt
    Aber der Sachsenwald, der hält:
    Und kommen nach dreitausend Jahren
    Fremde hier des Weges gefahren
    Und sehen, geborgen vorm Licht der Sonnen,
    Den Waldgrund in Efeu tief eingesponnen
    Und staunen der Schönheit und jauchzen froh,
    So gebietet einer: „Lärmt nicht so! -
    Hier unten liegt Bismarck irgendwo.“

Ergiebiger für die vorgegebene Themenstellung als die Erzeugnisse solcher Gelegenheitsdichtung sind die zahlreichen auf Bismarck bezogenen Andeutungen, Redensarten und Pointen in den Romanen. Fontane läßt den Reichskanzler hier nie direkt auftreten, doch als Hintergrundsfigur ist Bismarck in Gesprächen mit großer Häufigkeit präsent. Dabei wird nicht immer ersichtlich, wie Fontane selber zu Bismarck steht. Das Bismarckbild ist doppeldeutig. Positive Äußerungen werden vielfach durch negative ausgeglichen - so in der Erzählung L`Adultera, wo alle gängigen Argumente für und gegen Bismarck angeführt sind. Die Furchtlosigkeit Instettens in Effi Briest trägt ebenso Züge Bismarcks wie die Rücksichtslosigkeit des Majors von Crampas, der sich unbekümmert über moralische Prinzipien hinwegsetzt. Allseits präsent ist die Gestalt des Reichskanzlers auch im letzten Roman, Der Stechlin. Daß Dubslav von Stechlin einen „Bismarckkopf“ haben soll, wird von diesem larmoyant registriert: „Nun ja ja, den hab ich; ich soll ihm sogar ähnlich sehen. Aber die Leute sagen es immer so, als ob ich mich dafür bedanken müßte. Wenn ich nur wüßte, bei wem; vielleicht beim lieben Gott, oder am Ende gar bei Bismarck selbst. Die Stechline sind aber auch nicht von schlechten Eltern. Außerdem, ich für meine Person, ich habe bei den sechsten Kürassieren gestanden, und Bismarck bloß bei den siebenten, und die kleinere Zahl ist in Preußen bekanntlich immer die größere; - ich bin ihm also einen über.“

Derartige Passagen ließen sich in großer Zahl anführen. Sie würden aber Fontanes Bismarckbild stets nur sehr unvollkommen widerspiegeln. Denn die Bismarck-Reminiszenzen in den Romanen bleiben unbestimmt - im Positiven wie im Negativen. Wer zum Kern der Sache vordringen will, muß die Briefe des Dichters in den Blick nehmen. In ihnen artikuliert sich die Einschätzung des Staatsmannes und des Menschen Bismarck rein und vorbehaltlos.

III. Diese Einschätzung ist eine zutiefst zwiespältige gewesen, eine zwischen Bewunderung, Kritik und Ablehnung schwankende, sehr komplex, sehr differenziert, der Gestalt des preußischen Ministerpräsidenten in ihrer vielfältig gebrochenen Erscheinung damit durchaus adäquat. „Man mag Bismarck“ - so Fontane im Jahr 1880 - „lieben oder hassen, so muß doch immer zugestanden werden, daß intellectuell dasselbe von ihm gilt, was in physischer Beziehung von ihm gesagt worden ist: ein gewaltiger Mann!“

Entzückt und beeindruckt war Fontane vor allem von der geistigen, rhetorischen und sprachlichen Begabung Bismarcks, dessen Reden dem Dichter stets höchsten ästhetischen Genuß bereiteten und ihn 1891 gegenüber Paul Heyse schwärmen ließen: „Er [Bismarck] ist der glänzendste Bildersprecher und hat selbst vor Shakespeare die Einfachheit und vollkommenste Anschaulichkeit voraus.“ Heyse seinerseits hatte schon 1869 von Bismarck bekannt: „Würde dieser Herr statt mit Politik sich zu befassen auf dem Felde der Novellistik auftreten, so würde er als ernsthafter Konkurrent um die Gunst des Publikums einzuschätzen sein.“ Tatsächlich entfaltete Bismarck in seiner Schrift- und Redeform literarische Qualitäten von eigener, sprachschöpferischer und stilbildender Kraft, tatsächlich bot seine durch starke Bildhaftigkeit und hohen Anschauungsreichtum ausgezeichnete Sprache eine Fülle geschliffener Pointen, meisterhaft geformter Sentenzen, satirisch-humoristischer Wendungen, und vielleicht mag Fontane bei seinem Lob Bismarckscher Sprachkunst ja an Charakterisierungen gedacht haben wie die des französischen Staatspräsidenten Adolphe Thiers: - „... der Gedankenschaum quillt aus ihm unaufhaltsam wie aus einer geöffneten Flasche, und ermüdet die Geduld weil er hindert zu dem trinkbaren Stoffe zu gelangen auf den es ankommt“ - oder die des sächsisch-österreichischen Staatsmannes Graf Friedrich Ferdinand von Beust: „... eine jener Gestalten, die uns im Traume erscheinen, wenn wir schlafend übel werden; ein dicker Frosch ohne Beine, der vor jedem Bissen den Mund wie ein Nachtsack bis an die Schultern aufreißt, so daß ich mich schwindelnd am Rande des Tisches halte.“

Aber Bismarcks in solchen Formulierungen zum Ausdruck kommende Sprachgewalt bot selbstverständlich nicht den alleinigen Ansatzpunkt für Fontanes partiell positive Einschätzung des Staatsmannes. „Gewaltig“ war für den Dichter darüber hinaus vor allem die politische Leistung des Kanzlers: die Gründung des deutschen Nationalstaates, die Einigung des Reiches. Seit den Ereignissen von 1848 war für Fontane das Nationalbewußtsein d a s entscheidende Generationserlebnis. Daß Bismarck durch seine Politik den Traum der Nationaleinheit praktisch realisiert hatte, zählte für Fontane auch deshalb zu den ihm historische Größe verleihenden Taten, weil der Politik der Reichsgründung unmittelbar nach 1871 eine Politik der Kriegsverhütung und der Friedensbewahrung, der Sicherung des Erreichten durch weise Mäßigung und rücksichtsvollen Umgang mit der erlangten Machtstellung gefolgt war - eine Politik, deren Qualität für Fontane gerade auch im Kontrast zu dem mit größter Sorge registrierten Imperial- und Expansionsstreben unter Wilhelm II. außer Frage stand. „Alles“, so Fontane in diesem Zusammenhang, „was jetzt bei uns obenauf ist, entweder heute schon oder es doch vom morgen erwartet, ist mir grenzenlos zuwider: dieser beschränkte, selbstsüchtige, rappschige Adel, diese verlogene oder bornirte Kirchlichkeit, dieser ewige Reserve-Offizier, dieser greuliche Byzantinismus. Ein bestimmtes Maß von Genugtuung verschafft einem nur Bismarck und die Sozialdemokratie, die beide auch nichts taugen, aber wenigstens nicht kriechen.“

Der Reichskanzler wird hier also bereits in die beim späten Fontane allseits präsente Gegenwartskritik einbezogen - jene Kritik an neudeutscher Großmannssucht, welcher Fontane die positiven Eigenschaften des Altpreußentums entgegensetzte, verkörpert für ihn, wie für viele seiner Zeitgenossen, in der Person Kaiser Wilhelm I. Standhaftigkeit in der Gefahr, Mäßigung im Glück, Einfachheit und Arbeitsamkeit, Pflichtgefühl und Selbstbescheidung, und vor allem die Fähigkeit, sich selbst im Interesse der Sache zurücknehmen zu können, d. h. die geistige Überlegenheit anderer, in diesem Falle Bismarcks, anzuerkennen - das waren für Fontane die Tugenden des alten Kaisers, zugleich die Tugenden des alten Preußen. Ihnen entgegen standen die Signaturen der neuen, modernen, Weltpolitik treibenden Zeit, die von Fontane mit Aufmerksamkeit und wachsender Betrübnis registriert wurden: das Laute und Auftrumpfende, oftmals Taktlos-Anmaßende und überhebliche Wirkende im Auftreten, die nervöse Betriebsamkeit und Ungeduld beim Verfolgen auch der kleinsten Ziele, demonstrativ zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein als Kompensation latenter innerer Unsicherheit - alle diese in der Person des neuen Kaisers, Wilhelms II., wie in einem Brennglas gespiegelten aufdringlichen Manieren einer nachrückenden, nicht mehr an Preußen, sondern am Reich orientierten Generation reizten Fontane zur Kritik und forderten seinen Widerspruch heraus. Bismarck war an dieser sich abzeichnenden Misere insofern nicht ganz unschuldig, als er durch seinen menschlichen Kleinmut, seine eklatanten Charakterschwächen und seine persönlichen Unzulänglichkeiten der politischen Kultur des neugegründeten Reiches - Fontane zufolge - einen Stil aufgeprägt hatte, welcher für die Defekte der zeitgenössischen preußisch-deutschen Gesellschaft zumindest indirekt mitverantwortlich schien. „Er ist ein großes Genie, aber ein kleiner Mann“, schrieb Fontane schon 1881, und zehn Jahre später, nach Bismarcks Entlassung, war das Urteil apodiktisch: „Dieser Riese“, so lesen wir 1891, „hat was Kleines im Gemüt, und daß dies erkannt wurde, das hat ihn gestürzt ... Bismarck hat keinen größeren Anschwärmer gehabt als mich ... die Welt hat selten ein größeres Genie gesehn, selten einen muthigeren ... Mann und selten einen größeren Humoristen. Aber Eines war ihm versagt geblieben: Edelmuth; das Gegenteil davon, das zuletzt die ... Form kleinlichster Gehässigkeit annahm, zieht sich durch sein Leben (ohne den begleitenden infernalen Humor wäre er schon früher unerträglich gewesen) und an diesem Nicht-Edelmuth ist er schließlich gescheitert ... Es ist ein Glück, daß wir ihn los sind.“

Daß der politisch wichtigste Mann in Preußen keine menschliche Größe besessen habe, bot für Fontane keine gute Voraussetzung für eine gedeihliche Entwicklung seiner Schöpfung, des deutschen Nationalstaats. Und je älter der Dichter wurde, desto kritischer schärfte sich hier sein Blick, desto mißvergnügter gestalteten sich seine Urteile über den Menschen Bismarck - nicht über Bismarck als Politiker. August von Heyden gegenüber bekannte Fontane 1893: „Man muß sich immer wieder all das Riesengroße zurückrufen, was er genialisch zusammengemogelt hat, um durch diese von den krassesten Widersprüchen getragenen Mogeleien nicht abgestoßen zu werden. Er ist die denkbar interessanteste Figur, ich kenne keine interessantere, aber dieser beständige Hang, die Menschen zu betrügen, dies vollendete Schlaubergertum ist mir eigentlich widerwärtig, und wenn ich mich aufrichten, erheben will, so muß ich doch auf andre Helden blicken. Dem Zweckdienlichen alles unterordnen, ist überhaupt ein furchtbarer Standpunkt.“ Und 1895, anläßlich der Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag des Reichsgründers, stand Fontanes Urteil fest: „Diese Mischung von Übermensch und Schlauberger“, schreibt er an seine Tochter Martha, genannt Mete, „von Staatengründer und Pferdestall-Steuerverweigerer ... von Heros und Heulhuber, der nie ein Wässerchen getrübt hat - erfüllt mich mit gemischten Gefühlen und läßt eine reine helle Bewunderung in mir nicht aufkommen. Etwas fehlt ihm und gerade das, was recht eigentlich die Größe leiht.“

Nun ist es gar nicht unbedingt sicher, ob Bismarck, wären ihm denn solche Urteile Fontanes über seine eigene Person zu Ohren gekommen, hier grundsätzlich widersprochen hätte. Die von Fontane immer wieder pointiert herausgestellte Trennung zwischen der - positiv gesehenen - politischen Leistung Bismarcks und seinen - negativ gewerteten - menschlichen Schwächen war eine Unterscheidung, die auch dem Reichskanzler selbst insofern nicht gänzlich unvertraut war, als er stets zwischen dem Aufgabenbereich des den Landesinteressen verpflichteten Staatsmannes einerseits und des allein der Sphäre persönlicher Gewissensprüfung unterliegenden Privatmannes andererseits differenziert hat. Sein oft zitierter Brief an den mecklenburgischen Gutsbesitzer Alexander Andrae-Roman gibt dieser Einstellung plastischen Ausdruck: „Es ist mir herzlich leid“ - so erwiderte Bismarck auf die etwas selbstgerecht vorgetragene Frage seines Gegenübers, wie es denn um die Moralität seines Handelns bestellt sei -, „wenn ich gläubigen Christen Aergerniß gebe, aber gewiß bin ich, daß das in meinem Berufe nicht ausbleiben kann ... Als Staatsmann bin ich nicht einmal hinreichend rücksichtslos ... Wer mich einen gewissenlosen Politiker schilt, thut mir Unrecht und soll sich sein Gewissen auf diesem Kampfplatze erst selbst einmal versuchen.“

Damit sollen nun nicht etwa das zwiespältige Urteil Fontanes über Bismarck und die Zwiespältigkeit Bismarcks in der unterschiedlichen Beurteilung öffentlichen und privaten Handelns in einem gleichsam postumen Harmonisierungsakt miteinander versöhnt und die im Vorangehenden herausgearbeiteten komplexen Konturen des Fontaneschen Bismarckbildes wieder verwässert werden. Fontane kam mit Bismarck niemals ins reine, die Gestalt des Reichsgründers blieb für ihn eine ambivalente Figur, janusköpfig in ihrer Zerspaltung zwischen politischer Genialität und charakterlicher Anfechtbarkeit. Doch Zeitgenossen waren sie allemal, Bismarck und Fontane, auch in jener tieferen Bedeutung zeitbezogener Gemeinsamkeit, die sie beide als Repräsentanten e i n e s Zeitalters ausweist: jener auf Maßhalten, Verständigung und Ausgleich bedachten Welt Alteuropas, einer Welt, welcher die von Bismarck wie von Fontane gleichermaßen gefürchteten nachfolgenden Kräfte des Nationalismus, des Imperialismus und des Militarismus 1914 zum Verhängnis geworden sind.

1  Der Aufsatz beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser anläßlich einer vom 13. bis 17. Mai 2001 in Alt Ruppin seitens der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung veranstalteten Tagung „Dichter der deutschen Einheit - Politik und Geschichte bei Theodor Fontane“ gehalten hat. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Weiterführende Informationen und Textnachweise bieten die im Beitrag genannten Detailstudien von Walter Müller-Seidel: Fontane und Bismarck. In: Benno von Wiese und Rudolf Henß (Hrsg.): Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München vom 17.-22. Oktober 1966, Berlin 1967, S. 170-201; Kenneth Attwood: Fontane und das Preußentum, Berlin 1970; Hans-Joachim Schoeps: Bismarck über Zeitgenossen. Zeitgenossen über Bismarck, Berlin 1972; Ekkhard Verchau: Theodor Fontane. Individuum und Gesellschaft, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983; Gordon A. Craig: Über Fontane, München 1997, S.129-154. Zur Gesamtthematik vgl. auch Helga Ritscher: Fontane. Seine politische Gedankenwelt, Göttingen 1953, S. 66 f.; Gudrun Loster-Schneider: Der Erzähler Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren 1864-1898 und ihre ästhetische Vermittlung, Tübingen 1986, S. 236-257; Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 1994, S. 42-56; Helmuth Nürnberger: Fontanes Welt, Berlin 1997.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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