Eine Rezension von Erik Lehnert


Die schönsten und unglaublichsten Geschichten
schreibt immer noch das Leben

Eike Christian Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz
Eine Biographie.
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 2000, 646 S.

Um es gleich vorwegzunehmen: Hirsch hat ein schönes Buch geschrieben. Sein Anliegen, „den unvergleichlichen Leibniz vielen Menschen nahezubringen“, kann er mit dieser Biographie theoretisch erreichen. Den tatsächlichen Erfolg zu erringen wird schwer, da schon der Name Leibniz beim größeren Publikum gewisse Berührungsängste hervorruft, welche angesichts dieser Persönlichkeit verständlich sind. Sie können aber durch Bücher wie das von Hirsch überwunden, ja, müssen sogar überwunden werden, damit jeder sieht, was ein einzelner denken kann, wie unbegrenzt die Möglichkeiten des Verstandes sind. Hätte Leibniz nicht gelebt und Hirsch hätte einen Roman über einen fiktiven Leibniz geschrieben, würde das Resultat selbst für einen Roman zu übertrieben ausfallen. Die schönsten und unglaublichsten Geschichten schreibt eben immer noch das Leben.

Da Gottfried Wilhelm Leibniz, geboren 1646 in Leipzig und 1716 in Hannover gestorben, das Universalgenie des 17. Jahrhunderts war, mußte die Biographie dickleibig und spannend geraten. Will man seine Leistungen auf den Gebieten der Rechtswissenschaften, Philosophie, Physik, Mathematik, Geschichte, Theologie und nicht zuletzt seine Bemühungen in der zeitgenössischen Diplomatie beschreiben, braucht es nicht nur viel Platz, sondern auch die Fähigkeit zur Auswahl. Eine Leibniz-Biographie wird zwangsläufig zu einem ausufernden Gemälde seiner Zeit, da er, anders als beispielsweise Kant, als Diplomat und Forscher an vielen europäischen Höfen zu Gast war sowie mit den Größen seiner Zeit verkehrte und korrespondierte. Und das eben nicht nur in philosophischer Absicht, sondern durchaus in dem Bemühen um praktisch verwertbare Ergebnisse, beispielsweise in der Bündnispolitik und in der Wiedervereinigung der Kirchen. Dabei lag es nicht in seinem Aufgabenbereich, sich solchen Dingen zu widmen. Leibniz war seit 1676, nach einer Zeit in kurmainzischen Diensten und Aufenthalten in Paris, London und Den Haag (wo er Spinoza traf), am Hof von Hannover als Bibliothekar und politischer Berater angestellt. Sein unstetes Denken brachte es mit sich, daß er um weitere Aufgaben bat. U. a. versuchte er sich erfolglos als Verwalter der Silberbergwerke im Harz. Außerdem wurde er mit der Abfassung einer Geschichte der Welfen, der Familie seines Herrn, beauftragt. Diese sollte helfen, territoriale Besitzansprüche durch historische Urkunden und Genealogien zu untermauern sowie die letztlich erfolgreiche Bewerbung um die Kurwürde voranzutreiben. Doch Leibniz wollte mehr. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, eine umfassende und durchaus kritische Geschichte des Welfenhauses zu verfassen, die bei der Naturgeschichte des Kurfürstentums beginnen sollte. Das führte dazu, daß er nie fertig wurde. So ging es ihm mit fast allen seinen Projekten, an der Berliner Akademie der Wissenschaften hatte er bald nach der Gründung 1700 wenig Freude. Die meisten Projekte entwarf er nur, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie auszuarbeiten und zu Ende zu führen, da ihm schon wieder neue Ideen durch den Kopf gingen. So hat er zu Lebzeiten nur sehr wenig veröffentlicht (neben einigen Aufsätzen, z. B. „Neues System der Natur“ von 1695 und Rezensionen, 1710 das Buch Versuche der Theodizee), was in einem krassen Mißverhältnis zu seinem Briefwechsel (15000 Briefe, u. a. mit der Jesuitenmission in China), den zahlreichen Denkschriften, die in der Regel nur der Herrscher und seine Räte zu Gesicht bekamen, und den hinterlassenen Schriften steht (80 000 Blatt). Die wichtigen Bücher, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade und Monadologie, beide 1714 entstanden, sind 1718 bzw. 1720 herausgegeben worden. Leibniz hat seinen Platz in der Wissenschaftsgeschichte vor allem durch die Entwicklung der Infinitesimalrechnung inne. Doch die ewig aktuellen metaphysischen Überlegungen Leibniz' wiegen fast noch schwerer. „Alles ist System und Wandel, so sah er es und so war seine Metaphysik angelegt.“ Leibniz' Persönlichkeit ist schwerer zu fassen; trotzdem will Hirsch dies dankenswerterweise. Er war nie verheiratet, pflegte einen eher mönchischen Lebenswandel und schloß keine Freundschaften, die über wissenschaftliche oder politische Interessen hinausgingen. Er hatte in diesem Zusammenhang zwei Schwächen. Zum einen die für gebildete herrschaftliche Frauen (Kurfürstin Sophie von Hannover, die den englischen Thron erbte, und Königin Sophie Charlotte in Preußen, der er die Gründung der Akademie zu verdanken hatte), mit denen er philosophische Dispute führte. Zum anderen die ständige Suche nach Titeln, finanzieller Sicherheit und politischem Einfluß, die ihm den Ruf des Opportunismus einbrachte.

Hirsch hat sein Buch Biographie genannt und meint dabei eine populärwissenschaftliche, d. h. er bewegt sich auf Höhe der Forschung, ohne den Leser damit formell zu konfrontieren. Dieses, wie auch das schöpferische Nachempfinden von Dialogen, die nicht wörtlich überliefert sind, ist überaus gelungen. Ein Mangel muß hier dennoch genannt werden. Das Buch ist zwar durch ein Register erschlossen und bietet vorzüglich und sparsam ausgewähltes Bildmaterial, hat aber keinerlei sonstigen Apparat. Schön wären z. B. eine kurze, übersichtliche, vergleichende Zeittafel (Allgemeine Geschichte/Leibniz' Leben) und eine thematisch gegliederte Auswahlbibliographie zum Weiterlesen und Vertiefen gewesen, ebenso eine Auflistung der Werke Leibniz'. Der Nachweis der Zitate, der ja nicht nur im Text oder durch Fußnoten, sondern im Anhang mit Seitenzahl und Zeile erfolgen könnte, fehlt ebenso. Diese Dinge hätten das Buch noch besser gemacht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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