Eine Rezension von Volker Strebel


Eine Eisbombe zum Russisch-Japanischen Krieg

Milada Soucková: Der unbekannte Mensch
Aus dem Tschechischen von Reinhard Fischer.
Mit einem Vorwort von Peter Demetz und einem
Nachwort von Kristián Suda.

Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, 251 S.

 

Als Milada Soucková 1983 in Cambridge im Alter von 84 Jahren verstarb, war sie lediglich einem informierten Kreis von Bohemisten bekannt. Kein Geringerer als der russische Literaturwissenschaftler Roman Jakobson hatte als Exilierter der Exilierten in Fachkreisen zu Ansehen verholfen. Dabei hätte Milada Soucková in ihrer böhmischen Heimat einer literarischen Karriere entgegengesehen - wären nicht die Nazis gewesen und später die Kommunisten, welche ihr zum zweitenmal die Luft zum Atmen entzogen hatten. Der unbekannte Mensch - 1943 verfaßt - beleuchtet, ganz in der Tradition einer diminutiven böhmischen Kleinheit, gewaltige Stationen europäischer Geschichte, aber eben aus der Sicht eines unscheinbaren Nachmittags. Idyllische Momente sind oberflächliche Folie, in tiefer liegenden Schichten dräut es. Sandburgen und ihre Fähnchen etwa zieren die Atmosphäre eines Badeortes an der Ostsee - und dabei geht es um nichts anderes als den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Russisch-Japanische Krieg fällt in der Erinnerung Milada Souckovás mit einem Kindergeburtstag zusammen. Als Attraktion des Tages gibt es eine gewaltige Eisbombe ...

Die mitteleuropäische Tradition der Mikrokunst, des genauen Blickes abseits der gängigen Pfade, findet in Souckovás Prosa eine atmosphärisch dichte und ungemein lebendige Vertreterin. Viele „unbekannte Menschen“ waren zur Gründung der ersten tschechoslowakischen Republik versammelt - ob sie den Präsidenten erkennen würden? „Er saß in einem Automobil, hatte einen schwarzen Hut, einen weißen Schnurbart, der Wagen war schwarz, und die Schneeflocken waren weiß. ,Es lebe Präsident Masaryk!‘.“

Die beachtliche „Tschechische Bibliothek“ der Deutschen Verlags-Anstalt hat es ermöglicht, daß Souckovás Prosa erstmals in deutscher Sprache erscheint. In Tschechien sind ihre Bücher seit dem Fall des Eisernen Vorhangs zum Geheimtip avanciert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite