Eine Rezension von Volker Strebel


Butterbrote bei Georg Lukács

Ágnes Heller: Der Affe auf dem Fahrrad

PHILO Verlagsgesellschaft, Berlin 1999, 508 S.

 

Als 1981 im sozialistischen ungarischen Staatsverlag Corvina eine Bildmonographie über Georg Lukács in deutscher Sprache erschien, war Ágnes Heller im sozialistischen Lager bereits eine Verfemte und längst im australischen Exil. Aber erstaunlicherweise war von ihr lediglich eine Seite ihres Studienbuches abgebildet. Selbstverständlich waren die übrigen Mitglieder der „Budapester Schule“, Schüler und Freunde des legendären Philosophen Georg Lukács, in diesem Band nicht erwähnt, obwohl sie sich ebenfalls international einen Namen gemacht hatten. Die parteioffizielle Lesart versuchte, den greisen Lukács in ihrem Sinne zu vereinnahmen. Dessen lebenslänglich praktizierte Vorgehensweise von Selbstkritik und Widerruf des Widerrufs hatte die herrschenden Parteikreise eine Gelegenheit dazu wittern lassen.

Unter dem bezeichnenden Titel Individuum und Praxis hatte sich 1975 in einem Suhrkamp-Bändchen die Budapester Schule präsentiert, die philosophischen Ziehkinder von Georg Lukács. Auffallend war der Bezug zum einzelnen, der aus marxistischer Sicht eine „Theorie der Bedürfnisse“ (Ágnes Heller) entwickeln ließ.

Der vorliegende, längst überfällige Band schließt nicht nur die Lücke zwischen den 70er Jahren und der Emigration in den Westen, sondern beleuchtet Prägungen aus der Kindheit und Jugend, welche bestimmend für das spätere Denken wurden. Die Kindheit von Ágnes Heller stand im Zeichen des Holocaust, der Vernichtung der europäischen Juden, die auch im Ungarn der faschistischen Pfeilkreuzler ihre furchtbare Blutspur, vor allem nach der deutschen Besetzung im Frühjahr 1944, hinterließ. Als Erwachsene reflektiert Ágnes Heller ihre damaligen Erfahrungen im philosophisch-historischen Zusammenhang und äußert sich zu der Frage mancher jüdischen Freunde, warum sie heute mit Deutschen überhaupt reden können: „Seid mir nicht böse, das verstehe ich nicht. Der Holocaust sagt nichts über die Deutschen oder die Ungarn aus, sondern darüber, wozu wir alle imstande sind. Er ist ein universelles menschliches Problem.“ Auch in der Beurteilung des Holocaust findet sich die Denkrichtung von Ágnes Heller, die bereits als Zwanzigjährige eine philosophische Berufung verspürte. Die Welt, die Wahrheit, das Leben, der Mensch - es ging darum, eine „Nuß aufzubrechen“. Heute, als reife Persönlichkeit, erkennt Ágnes Heller, daß es keine Nüsse mehr zu knacken gibt: „Anstelle der Systeme gibt es das Denken.“ Hellers Ablösungsprozeß vom Marxismus konnte in ihren Publikationen über die Jahre hinweg beoboachtet werden, in diesen Erinnerungen äußert sie sich erstmals unmittelbar und direkt darüber. Ein Dreh- und Angelpunkt in ihrem Leben und Denken bildet das Jahr 1956, als die Revolution gegen das verhaßte stalinistische Rákosi-System mit brutaler Waffengewalt niedergeschlagen wurde. Der Holocaust und der Stalinismus waren Herausforderungen für die junge Philosophin, die sie erlebt und erlitten hatte. Sie hatte sich in einer philosophischen Ethik, ausgehend vom wirklichen Leben, die Frage gestellt, wie man in solchen Zeiten ein anständiger Mensch bleiben kann. Statt abstrakter Geschichtsphilosophie und auferlegter Selbstaufgabe der Persönlichkeit erfuhr Ágnes Heller in der aufregenden Zeit von 1956 eine neue Sicht: „Das Imre-Nagy-Programm suggerierte, daß man seine eigenen Interessen niemals aufgeben solle. Demnach war das persönliche Interesse genauso wichtig wie das der Gemeinschaft. Wir können nichts für die Gemeinschaft tun, wenn wir nicht auch persönlich interessiert sind.“ Ethik und gesellschaftlich ausgerichtetes Denken fielen zusammen, aus einem starren Marxismus entwickelte sich die ungarische Variante der „Neuen Linken“, die sich auf der Suche nach den Quellen eines authentischen Sozialismus vor allem den Frühschriften des jungen Marx widmeten. Im Sinne von Karl Marx galt es, in erster Linie eine Kritik des Bestehenden zu erarbeiten. Für Ágnes Heller, ihren Mann Ferenc Fehér, György Márkus und andere führte das gleichsam organisch hin zu dissidenten Kritikern des „real existierenden Sozialismus“. Mit allen Folgen einer verordneten Isolation. Da ihnen Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten genommen waren, wählten Heller und ihre Freunde das Exil. Der besondere Reiz der Erinnerungen Ágnes Hellers liegt darin, daß sie auch das Leben in der Fremde reflektiert. Der Marxismus als Gedankensystem zur Erklärung der Welt war zusammengebrochen - die „Lust zu fliegen“, wie Ágnes Heller das spekulative Denken nennt, ungebrochener denn je.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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