Wiedergelesen

 
Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun
Aufbau-Verlag, Berlin/Weimar 1950, 499 S.
 

Knapp 50 Jahre nach der ersten Lektüre in den Fünfzigern und nach intensiver Beschäftigung in den Sechzigern fesselt mich Arnold Zweigs Roman Erziehung vor Verdun heute aufs neue. Mit großem Interesse verfolge ich zum wiederholten Mal, wie ein junger Mann in der mörderischen Schlacht um Verdun 1916 bis auf den Grund seines Denkens und Fühlens durchgeschüttelt wird, wie er, der kultivierte Intellektuelle und angehende Schriftsteller, nicht nur physisch herunterkommt.

Zweig macht es seinem Helden Werner Bertin schwer, den Krieg nicht länger als eine schicksalhafte Macht anzuerkennen. Die Langsamkeit seiner geistigen Entwicklung wirkt vollkommen überzeugend, weil er sich nur mühsam und partiell von tief verinnerlichten Idealen und Illusionen frei machen kann. In diese widerspruchsvolle Charakterentwicklung sind entsprechende eigene Erfahrungen Zweigs eingeflossen.

Die Lebendigkeit dieses „Erziehungs”-Vorgangs hängt vor allem damit zusammen, daß Zweig seinen Helden in einem vielgestaltigen Figurenensemble agieren läßt. Als jüdischer Intellektueller, der vor dem Krieg außerhalb des Universitätsmilieus kaum soziale und kulturelle Erfahrungen gemacht hatte, war er auf die unterste Stufe der militärischen Hierarchie verschlagen worden. Er ist „Schipper”, Armierungssoldat ohne Waffe, der schwere körperliche Arbeit zu leisten und der, bislang an Eigenständigkeit gewöhnt, vor allem zu gehorchen hat. Mit dem Anpassungszwang und der ihm fremden Welt der „kleinen Leute” kommt er zurecht. Es erfüllt ihn mit Genugtuung, die ungewohnten körperlichen Anstrengungen ebenso gut zu erfüllen wie seine proletarischen und bäuerlichen Kameraden.

Indem er gegen die für seinesgleichen lebenswichtige Regel verstößt, in keiner Weise aufzufallen, setzt er ahnungslos eine Kette von Ereignissen in Gang, die ihm viele schmerzliche Einsichten bescheren. Es ist immer wieder spannend zu lesen, wie es einem ergeht, der als winziges Körnchen Sand das militärische Getriebe ein wenig stört. Zweig verwickelt seinen literarischen Zögling innerhalb des Kriegsalltags in einen juristischen Fall, für den er sich aufgrund seiner juristischen Ausbildung und seines leidenschaftlichen deutschpatriotischen Rechtsgefühls bestens eignet. Er ist weitgehend „blinder” Akteur in einem „Privatkrieg” zwischen Offizieren verschiedener Ränge und Gesinnungen - eine höchst gefährliche Situation.

Zweig läßt uns Lesende im Detail mitvollziehen, wie Bertin die doppelte Gefährdung durch den „Privatkrieg” einerseits und durch den Kriegsalltag an vorderster Front andererseits durchsteht. Man erfährt im vorletzten Kapitel, daß Bertin aus der Hölle von Verdun in eine Schreibstube im Hinterland der im Frühjahr 1917 vergleichsweise „friedlichen” Ostfront versetzt wird. Und im Abgesang, der auf den Juni 1919 datiert ist, sieht man Bertin mit seiner Frau Lenore in der Gegend um Nürnberg spazierengehen. Er ist also gerettet. Aber - wie seine Frau nur zu gut weiß - mit argen psychischen Schäden. Angesichts der schönen Landschaft fällt ihm nichts besseres ein als die Überlegung, daß diese Wiese vor ihnen „durch ein Maschinengewehr gegen zwei Kompanien zu halten” wäre und daß der Waldrand „eine famose Stellung” für Flakbatterien abgäbe. Offensichtlich hat Bertin Mühe, den Krieg, den er hassen gelernt hat, loszuwerden.

Eben das hatte Zweig nach Kriegsende selbst schmerzlich genug erfahren. Als Schriftsteller konnte er sich nach und nach den Krieg von der Seele schreiben, nicht zuletzt durch diesen Roman, an dem er seit Ende der 20er, hauptsächlich nach 1933 im Exil in Palästina gearbeitet hatte und der 1935 in Amsterdam erschien. Nach dem erfolgreichen Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927) und dem Ende 1931 erschienenen Roman Junge Frau von 1914 konnte dieser dritte Band des großen Zyklus Der große Krieg der weißen Männer deutschen Lesern erst nach dem Zweiten Weltkrieg vor die Augen kommen.

Eva Kaufmann


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite