Eine Rezension von Volker Strebel

Tausend Unterbringungsmöglichkeiten

Andrei Plesu: Wer in der Sonne steht, wirft Schatten
Aus dem Rumänischen von Mihai Topa.
Mit Fotos von Peter Mercea und einer Einleitung von Wolf Lepsius.
edition tertium, Ostfildern (bei Stuttgart) 2000

1988 hatte in einem Bukarester Verlag ein Essay aus Andrei Plesus Feder erscheinen können, den er selbst damals als „den Ton der Stimmgabel vor einem noch abwesenden Orchester“ bezeichnet hatte. Gegen seinen Willen mußte daraufhin Andrei Plesu seine Familie und seinen Beruf verlassen und wurde von den rumänischen Behörden in Tescani als Dorfbibliothekar eingesetzt.

Doch der Kunsthistoriker Plesu konnte es nicht lassen. Seine Verbannung verarbeitete er wiederum in einem Notiz- und Tagebuch, das in Rumänien erst 1993 erscheinen konnte. Er selbst schreibt dazu in einer Vorbemerkung, daß diese Veröffentlichung auf ein eigenartiges Echo stieß, da die Leserschaft offenbar auf irgendwelche Abrechnungen oder Anklagen eingestellt und verwirrt war, als sich nichts Derartiges vorfinden ließ.

Plesu möchte unabhängig sein, auch vom Haß. Und das auch, wenn er gerechtfertigt wäre: „Ich lehnte es aber spontan und immer wieder ab, unter den Bedingungen des Opfers zu funktionieren, mich von der Vision des Gegners bestimmen zu lassen.“ Nach dem Ende des Ceausescu-Kommunismus hatte Andrei zeitweilig das Amt des Kulturministers inne. Heute lehrt der Rektor des Bukarester New Europe College als Professor für Religionsphilosophie an der Universität in Bukarest.

Im innerrumänischen Exil verwandelte der Denker Plesu auf seine Weise Beobachtungen in literarische Münzen. Kleine Texteinheiten von beachtlichem Gegenwert.

Es ist beeindruckend, mit welcher Schärfe er zufällige Anlässe für denkerische Experimente hernimmt und durchexerziert, wie zum Beispiel „unsere (mentale) Beziehung zu Gott“, für die Andrei Plesu vier Möglichkeiten vorlegt. Plesu ist der Überzeugung, daß der höchste Gedanke, den wir denken können, der Gedanke an Gott ist: „Es besteht ein riesiges Mißverhältnis zwischen unserem alltäglichen Denkvermögen und der Tragweite dieses Gedankens. Allein, daß wir uns dieses Unterschieds bewußt werden, gleicht einem Wunder.“

Man kann sich nicht vorstellen, daß diese Aufzeichnungen zu einer Zeit entstanden sind, als sich das starre Ceausescu-System als unverrückbar für alle Zeit dargestellt hatte. Woher nahm Plesu diese innere Freiheit, mit einer spielerischen Souveränität voller Witz und Bildung Überlegungen zu den Dingen, die ihn beschäftigten und umgaben, anzustellen? Plesu war sein Glaube geblieben und die Überzeugung vom „intellektuellen Fassungsvermögen“.

Selbstverständlich gedenkt Andrei Plesu auch seines philosophischen Lehrmeisters, der sich vor Nicolae Ceausescus totaler Diktatur in die Berge zurückgezogen hatte: „Der Geruch des Winters verbindet sich in meiner Seele oft mit Constantin Noica. [...] Winter war es, als wir zu Noicas erster Hütte hinaufkletterten, wo er mit einer Kerze in der Hand (es war gerade wieder Stromausfall) und mit ‚tausend Unterbringungsmöglichkeiten‘ auf uns wartete.“

Die Photos von Peter Mercea bilden in diesem Büchlein kein bloßes Beiwerk, sondern illustrieren Andrei Plesus Gedanken, ohne sie abzubilden. Das ermöglicht den weitest möglichen Raum für beide Medien, Wort und Bild. Die im Bändchen vorgelegte sensible Mischung, das sei angemerkt, findet sich freilich äußerst selten. Bild und Text kommentieren sich nicht gegenseitig, sondern erweitern die ästhetischen wie intellektuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten.

Dieses philosophisch-ästhetische Tagebuch stellt die Leistung eines Intellektuellen von Format dar, der nicht dem Zynismus huldigt, sondern seiner Berufung treu bleibt. Der tschechische Philosoph Karel Kosík, selbst zwanzig Jahre in seinem Land marginalisiert, brachte diese Berufung auf einen verblüffenden Nenner: Die Aufgabe eines Intellektuellen ist es, zu denken! Und nichts anderes.

Scheinbar einfach und doch unendlich fremd - auch und gerade im demokratischen Westen. Sich auf das Denken konzentrieren und dies in bekömmlicher Form einer Leserschaft anbieten. Ein seltenes und um so wohltuenderes Ereignis.

Andrei Plesus ungewöhnliche Gedankenfülle ist in ihrer Form auf jene Kürze reduziert, welche die Genauigkeit auszeichnet. Ein ungewöhnliches Buch. Ausgezeichnet in seiner prägnanten Dichte. Tatsächlich ein dichterisches Buch!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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