Eine Rezension von Volker Strebel

Kalte Straße, müde Menschen, müde Straßenbahnen

Boris Pasternak: Eine Brücke aus Papier
Mitgeteilt von Jewgeni und Jelena Pasternak. Aufgrund der russischen Edition herausgegeben von Renate Döring-Smirnov.
Aus dem Russischen von Gabriele Leopold.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 512 S.

Die Brücke aus Papier umfaßt die Korrespondenz der Familie Pasternak von 1921-1960, und doch überbrückt dieser Briefwechsel weit mehr als innerfamiliäre Begebenheiten. Diese Papiere bilden auf ihre dezente Art, oft genug wegen drohender Zensur, die gesammelten Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts ab.

Diese Briefesammlung stellt nichts geringeres als ein Dokument über Rußland und, abgeschwächt, Europa im zwanzigsten Jahrhundert dar. Die Machtergreifung der Bolschewisten nach der Oktoberrevolution von 1917 veränderte schließlich nicht allein das Gesicht Rußlands, sondern veränderte die ganze Welt. Wenn auch in anderer Weise, als ursprünglich beabsichtigt.

Bereits im Jahr 1921 organisierte die Familie von Boris Pasternak die Emigration. Eine notwendige Operation wegen drohender Erblindung infolge des grauen Stars bei Vater Leonid Pasternak bildete letztlich den Anlaß. Leonid Pasternak war zu jener Zeit ein berühmter Maler. Immer wieder hatte er auch seinen Sohn Boris gemalt. Aus dem Jahr 1898 ist eine eindrucksvolle Zeichnung des achtjährigen Boris erhalten: barfüßig am Schreibtisch sitzend und selbstverständlich schreibend.

Auch der junge Boris Pasternak spielte mit dem Gedanken der Emigration aus Rußland, um seinen Eltern nach Berlin zu folgen. Zehntausende von russischen Emigranten lebten in den 20er Jahren in Berlin, unterhielten eigene Verlage, mehrere Zeitungen und bevölkerten nicht nur Kaffeehäuser, sondern auch ihre Theater. Pasternak hatte 1922 die Künstlerin Jewgenija Wladimirowna geheiratet und sondierte in Berlin nach den Chancen einer fachlichen Ausbildung für seine junge Frau. Indes, diese Emigration dauerte lediglich einen langen Winter. Im März 1923 fuhren die beiden nach Rußland zurück. Aber alle dachten damals noch, daß sich das Leben um etwas Vorläufiges handelt. An endgültige Grenzen des Schicksals vermochte keiner zu denken. Was sie damals nicht ahnen konnten, war, daß Boris Pasternak seine Eltern nie wieder sehen sollte.

1928 schrieb Boris Pasternak an seine Lieblingsschwester Josephine, daß er im Ausland etwas Großes schaffen möchte, „und dieses Große, sage ich, möchte ich eben dort schreiben. Doch dafür muß ich alles Unfertige und Unvollendete fertig schreiben und verkaufen, und das braucht ein, zwei Jahre.“ Wer hätte damals gedacht, daß Boris Pasternak tatsächlich etwas Großes schreibt – allerdings in der Heimat. Und dafür sogar den Nobelpreis für Literatur erhält – den er wiederum nicht annehmen darf.

Die verschiedenen Etappen der sich etablierenden Sowjetunion mit ihren inneren Kämpfen kommen eher über angedeutete Umwege zu Wort, zumal Boris seine Eltern nicht ängstigen möchte. Doch die Monate, die er auf Vorschuß lebt, lassen sich nicht verheimlichen. Die Schaffenskrisen begleiten Boris Pasternak wie der Schatten das Licht. Mit wenigen Strichen vermag Pasternak seinen Eltern Stimmungen zu skizzieren: „Kalte, abstrakte Straßen, kalte, müde Menschen, müde Straßenbahnen und Abende.“

Angesichts des Machtantritts der Nazis in Berlin schreibt Boris Pasternak: „Wie seltsam es dir auch erscheinen mag, aber es ist ein und dasselbe, was mich sowohl bei uns als auch in eurem System bedrückt. Daß es keine christliche Bewegung ist, sondern eine nationalistische; das heißt, sie läuft wie bei uns Gefahr, in die Bestialität des Faktischen abzugleiten, zeigt denselben Bruch mit der uralten und gnädigen Tradition, die von Metamorphosen und Vorwegnahmen lebte, und nicht von bloßen Konstatierungen eines blinden Affekts.“

Lebensnah sind die Beschreibungen von Boris Pasternak über einen kräfteverzehrenden Alltag, die Enge der Wohnungen, die ständigen Improvisationen. Und immer hat er den strengen Blick des Vaters vor Augen, vor dem er bestehen möchte: „Manchmal glaube ich, wenn ich im Leben etwas gewählt habe und an etwas gearbeitet, wenn ich etwas werden wollte und bin, dann war das irgendwo in der Tiefe der Seele für Euch“ – da ist Boris bereits 46 Jahre alt.

Für Boris Pasternak war Rußland die zweite Haut, aus der er nicht emigrieren wollte und konnte. Er mußte Furchtbares ertragen und Schmähungen über sich ergehen lassen, aber er blieb. „Nun, was soll ich euch zum Abschluß sagen, damit ihr alles über mich wißt? Selbst wenn ihr irgendwann hören solltet, man hätte mich gevierteilt, seid gewiß, daß ich ein glückliches Leben gelebt habe“, schrieb Boris Pasternak 1948 an seine Schwestern.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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