Eine Rezension von Bernd Heimberger

Nobody. Niemals

Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke.
Kritische Studienausgabe.
Hrsg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari.
Deutscher Taschenbuch Verlag; Walter de Gruyter, München, Berlin 1999, 15 Bände

Nietzsche war ein Nobody. Zumindest in der DDR, solange die DDR existierte. Dennoch war Friedrich Nietzsche nicht chancenlos. Auch nicht in der DDR. Er war einer der Abwesenden, die immer anwesend waren. Einer von denen, die die DDR auf Distanz hielt. An Freud ist zu denken. Auch an den ungarischen Philosophen und Ästhetiker Georg Lukács, der der DDR den Nietzsche ausgeredet hatte. Zu denken ist an alle, die sich von der DDR distanzierten. Ernst Bloch und Hans Mayer. Zum Beispiel.

Der Fall Nietzsche war ein besonderer Fall. Die DDR war mit einem unerwünschten, also unbrauchbaren Nietzsche-Erbe geschlagen. Da gab’s ein Grab im sächsisch-anhaltinischen Röcken, das heißt im Bezirk Halle. Da gab’s ein Haus in Weimar, das heißt im Bezirk Erfurt, das nie den Nimbus loswurde, das Nietzsche-Archiv beherbergt zu haben, welches die offensichtlich nationalsozialistisch gesonnene Nietzsche-Schwester den Nazis in den Rachen geworfen hatte. Für die tatsächlichen und erklärten Antifaschisten der DDR-Führung ein Grund, sich der gesamten Nietzsche-Erbschaft zu verweigern. Die wirklichen Gründe für die Zurückweisung des Nietzsche-Werkes waren tiefgründiger. Die Ideologen unter den Marxisten richteten eine Barrikade gegen Nietzsche auf, weil sie nicht waren, was sie vorgaben zu sein: Marxisten, die ihren Marx begriffen hatten. Ist die Frage schon beantwortet, wer den größten Schaden davontrug, der mißbrauchte Marx oder der mißachtete Nietzsche? Die offizielle Mißachtung des Philosophen in der DDR wurde oft genug ignoriert.

Die Spuren zum schlichten Röckener Grab waren nie verwischte Spuren. In manchem Werk mancher DDR-Dichter – von Heinz Czechowski bis Karl Mickel – gab’s mehr oder weniger versteckte Annäherungen nicht nur ans Grab des Auch-Dichters Nietzsche. In allen geisteswissenschaftlichen Studiengängen war der Unberührbare ohnehin ein Berührter. Was nicht zur Folge hatte, daß etwas für die Verbreitung über die Studierstuben hinaus getan wurde. Dennoch starben die Wißbegierigen auch in der DDR nicht aus. Für nachgewiesene Nietzsche-Nachforschungen, waren die Nietzsche-Werke in einer Handvoll Bibliotheken zu haben. Aus dem Buchhandel war Friedrich Nietzsche verbannt. Genauer: Aus dem Volksbuchhandel der DDR. Nietzsche wurde in der DDR nicht verlegt. Ein ausgesprochenes Nietzsche-Verbot gab es nicht. Nicht für den Vertrieb von Nietzsche-Schriften. Findigen war das Nietzsche-Werk zu einer Such- und Fundsache geworden. Wer die Geschäfte der immer rarer werdenden privaten Buchhändler und Antiquare von Wismar bis Wernigerode kannte, hatte bis in die siebziger Jahre die Chance, so manchen Nietzsche-Band aufzustöbern. Zum Beispiel das Buch für „alle und keinen“, also Also sprach Zarathustra. Verlegt vom Verlagshaus Bong & Co, Berlin. In Bongs Klassischer Bibliothek. Für 1,90 Reichsmark. Zum Beispiel die Erläuterungen zu Nietzsches Zarathustra des Gießener Professors August Messer, die 1922 bei Stecker und Schröder, Stuttgart, aufgelegt wurden. Mit einigem Glück geriet man eventuell in Budapest oder Warschau an „Kröners Taschenbuchausgabe“ und stoppelte so Stück für Stück die Werkausgabe zusammen, für die das Leipziger Verlagshaus Alfred Körner das Copyright besaß. Der in der Kröner-Reihe erschienene Band 73, der die „Gedanken über die moralischen Vorurteile“ unter dem Titel Morgenröte sammelte, entpuppte sich als reichlich mit Bleistift beackertes Buch. Keine Seite ohne Anstreichungen und Anmerkungen, Ausrufezeichen und Fragezeichen. Mit drei Ausrufezeichen versehen das 370. Notat: „Inwiefern der Denker seinen Feind liebt. – Nie etwas zurückhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir! Es gehört zur ersten Redlichkeit des Denkens.“ Das hätte so auch Marx, Nietzsche-Zeitgenosse, sagen können, weil er so dachte. Wie der Leser – Antifaschist oder Marxist? – der sich mit seinen Bleistift-Zeichen derart nachdrücklich zur Passage bekannte. War Friedrich Nietzsche der Philosoph zum Ausrufezeichensetzen? War der Ausrufezeichensetzer ein Philosoph der Fragezeichen? Vielleicht war Friedrich Nietzsche nur ein genialer Schachspieler. Sofern Schachspielen eine Philosophie und Philosophie ein Schachspiel ist.

Als die DDR über das Jugendalter hinaus war, über die deklarierte proletarische Herkunft hinaussah, wurde der Hintergrund deutscher Geschichte sichtbar. Friedrich Zwo, aus dem Potsdamer Park-Exil befreit, wurde wieder ein weithin sichtbarer Standort Unter den Linden in Berlin gesichert. Einem Ost-Berliner Historiker gelang es, die gescheiteste Biographie des Reichsgründers Bismarck zu schreiben, die nicht in der Schublade verendete. Der Dichter Franz Fühmann begleitete ein erstes, einführendes Büchlein Freudscher Schriften mit fördernden Worten. Eine mehrbändige Ausgabe wurde konzipiert, sozusagen vor Toresschluß, 1988 in der Reihe „Österreichische Bibliothek“ veröffentlicht, die ein kooperatives Unternehmen des Böhlau Verlags, Wien, sowie des Verlags Volk und Welt, Berlin, war. Nietzsche, ein noch immer zu heißes Eisen, wurde nicht mehr nur aus der Entfernung umgangen. Nietzsche stand zur Debatte. Anläßlich der Veröffentlichung der Freud-Ausgabe fragte der Herausgeber, Dietrich Simon, der bis auf den Tag dem Verlag Volk und Welt vorsteht: Wie war es möglich, Thomas Mann ohne die Kenntnis von Freud und Nietzsche zu lesen? Ist das möglich? In der DDR war das möglich! Hat wer darüber gelacht? Wer hat darunter gelitten? Wem hat das Defizit geschadet? Wie? Mit welchen Folgen?

Waren sie die Königskinder, die nie zusammenkommen konnten. Der „Mensch neuen Typs“ mit den sozialistischen Genen und der „Übermensch nietzschescher Vorstellung“? Man muß Marx lesen, um zu wissen, wie arg die Realsozialisten das Denken von Marx deformierten. Ärger als die Gedanken des Friedrich Niezsche! Die waren nur eingesperrt hinter den Gittern der Schlagworte. Den „marxistischen“ Einsperrern ist Nietzsche, der Philosoph der Entgrenzung, wie der Leibhaftige erschienen. Sie glaubten den Teufel zu bannen, wenn sie Nietzsches Grundidee ignorierten und fernhielten, daß Erneuerung auch immer Zerstörung ist. Wer der Entwicklung den Katalysator stiehlt, muß sich nicht wundern, wenn Entwicklung ausbleibt. Nietzsche hätte das Ende der DDR in ihren Anfängen und Ausführungen kommen sehen. Also nicht nur, weil er den Sozialismus als „Tyrannei der Geringsten und Dümmsten“ abtat. Gering und dumm war, daß die Geringsten und Dümmsten Nietzsche aus der DDR ’raushielten, womit sie das Verdikt des Philosophen bestätigten. Der Gipfel der Borniertheit war, daß diejenigen, die Friedrich Nietzsche einen proimperialistischen Denker und geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus nannten, zu wenig oder gar nichts vom Vor-Verurteilten gelesen hatten. Nazi-Philosophen, die sich mancher Nietzsche-Fragmente bemächtigten, haben die Legende vom nationalistischen Denker gesponnen, von der sich DDR-Marxisten einwickeln ließen.

Wer seine blaugebundenen Marx-Engels-Ausgaben nicht aus dem Bücher-Bord in den Papier-Container bugsierte, um sie durch Freud, Fromm und Folgende zu ersetzen, sollte seine philosophische Bibliothek komplettieren, sofern das noch nicht geschehen ist. Hundert Jahre nach dem Tode des Philosophen gibt’s eine Neuausgabe der bewährten KSA, sprich „Kritische Studienausgabe“, in 15 Bänden. Vor zwei Jahrzehnten erstmals als Taschenbuchedition bei dtv erschienen, basiert die Ausgabe auf der vollständigsten Nietzsche-Publikation. Die entwickelten die italienischen Philologen Giorgio Colli und Mazzino Montinari in den sechziger und siebziger Jahren für den in Berlin und New York ansässigen Verlag de Gruyter.

In einem Brief an den Theologen-Freund Franz Overbeck beklagte der 43jährige Nitzsche „die Vereinsamung und Schutzlosigkeit eines Leidenden, der kein Mittel hat, sich auch nur zu wehren ...“ Einsamkeit und Leiden waren Nietzsches Leben. Das Überleben sicherte dem Philosophen sein Gedanken-System, mit dem er sich gegen die demokratische Mittelmäßigkeit des gesellschaftlichen Lebens wehrte. Die Tragödien der eigenen Existenz begriff er als Tragödien der gesamten Kultur seiner Zeit. Der Sinn des Seins bestand für Nietzsche nicht darin fortzuleben, sondern sich erneuernd zu steigern. Das verlangte, das „Ewig-sich-selber-Schaffen“ als „Ewig-sich-selber-Zerstören“ zu akzeptieren. Die Selbststeigerung als das Maß des Menschen zu fordern verlangte, der „Übermensch“ zu sein, der mit Bestehendem bricht, um zu erneuern, was ständig zu erneuern ist: das Leben.

Künstler, die traditionelle Werte entwerten, um neue Werte zu schaffen, waren die verständigsten und beständigsten Nietzsche-Bekenner. Sie verkörpern den Übermenschen, der keine gedankliche Konstruktion des Philosophen ist, sondern der praktisch handelnde Realist in der Realität. Im Sinne Nietzsches der wirklich Handelnde, also der Ausnahmemensch, also der Übermensch. Was war Richard Wagner – letztendlich – für Friedrich Nietzsche, wenn nicht der Übermensch? Was war Friedrich Nietzsche für Friedrich Nietzsche, wenn kein Übermensch? Einer, der kein Nationalist sein kann, wie Nietzsche, der mit seiner Verachtung für das Bismarck-Reich nicht hinterm Berg hielt. Einer, der kein Rassist sein kann, wie Nietzsche, dem es absurd schien, im Vielvölker-Europa „Rassenfragen aufzuwerfen“. Einer, der kein Antisemit sein kann, wie Nietzsche, weil er sich in seiner Glaubensfreiheit auf die Übermensch-Konsequenz des Lessing’schen „Nathan“ beruft. Nietzsches Werk, weder brauchbar für den Kapitalismus, noch nutzbar für den Kommunismus, ist – wenn überhaupt – bei den Künstlern angekommen und von ihnen aufgenommen. Die von Friedrich Nietzsche bevorzugten verbindlichen Bindungen zu Künstlern waren die Beziehungen eines Menschen, der selbst Künstler war. Nicht nur – aber auch -, weil ihm die eigenen Gedichte nicht weniger wichtig waren als die philosophischen Schriften. Die Seiten seiner philosophischen Prosa waren – entsprechend seiner Forderung, die allen Schreibenden galt – gemeißelt wie eine Säule. Nietzsches Sprache ist eine Strömung, der man folgen muß, sobald man sich in sie begibt. Mitgenommen, kommt man weit und ist selbst als Erschöpfter immer ein Erfrischter. Stets ist man geneigt, dem dänischen Literaturhistoriker Georg Brandes zuzustimmen, der 1887 in einem ersten Brief an Nietzsche gestand: „Ich verstehe noch nicht völlig, was ich gelesen habe; ich weiß nicht immer, wo Sie hinauswollen?“ In Ecce homo, der späten Selbstbefragung und –darstellung, kommt immer aufs neue Nietzsches Sorge zum Ausdruck: „Hat man mich verstanden?“ Nach dem Jahrhundert und hundert Jahre nach Nietzsche ist die Antwort eindeutig. Friedrich Nietzsche ist besser mißverstanden worden als verstanden. Warum? Weil die Katastrophen und Krisen des 20. Jahrhunderts, sprich der Zivilisation, mehr waren als nur eine Ahnung des Philosophen. Wohl wissend notierte Nietzsche: „Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen ...“ Was heißt, die Erinnerung an einen Weltgeist, der den Zustand und die Zukunft der irdischen Welt höllischer sah als die Hölle? Dem mußte jeder mißtrauen, wie Kassandra mißtraut wurde! Ist das das Ungeheure?

Nietzsche muß man sich zutrauen. Wer sich Friedrich Nietzsche zutraut, kann ihm nicht mißtrauen und ihn nicht mißverstehen. Der Nietzsche ist nämlich wer, der uns mitnehmen wird ins nächste Jahrhundert und Jahrtausend. In dem er dann auch ankommt, nach den Irrungen und Wirrungen des Katastrophen-Jahrhunderts? Das 20. Jahrhundert war ein deutsches Ereignis. Wird das 21. Jahrhundert ein europäisches Ereignis, das nicht für das 20. Jahrhundert verantwortlich gemacht werden will? Kommt’s so, so hat die Zukunft des Friedrich Nietzsche bereits begonnen, und die Überlegenheit des Philosophen wird möglicherweise wahr, der schrieb: „Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Z a r a t h u s t r a“. Einer, der so spricht, ist kein Nobody. Niemals. „Wahrheit für Übermorgen“, den Titel wollte Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) einer Sammlung von Gedankennotizen geben. Wenn das nicht das Programm eines Philosophen von Welt für die Welt ist – was dann?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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