Eine Rezension von Eberhard Fromm
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Die Ironie des Sokrates

Alexander Nehamas: Die Kunst zu leben
Sokratische Reflexionen von Platon bis Foucault
Rotbuch Verlag, Hamburg 2000, 411 S.

Die von Otto Kallscheuer herausgegebene Reihe „Rotbuch Rationen“, in der die vorliegende Arbeit erschienen ist, steht unter dem Motto „Keine Leitlinien, sondern produktive Neugier“. Ganz in diesem Sinne untersucht der 1946 in Athen geborene Alexander Nehamas, der heute an der Universität Princeton als Professor für Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft lehrt, das merkwürdige und fast paradoxe Phänomen, „daß aus der Ironie von Platon und Sokrates ... schließlich eine Tradition erwuchs, derzufolge das Leben gelebt werden kann“ (S. 38).

Was das bedeutet und wie er dieser Fragestellung zu Leibe rücken will, erläutert der Autor in seiner Einleitung. Er widmet sich Philosophen der Lebenskunst von ihrem Begründer Sokrates über Platon zu Montaigne, Nietzsche und Foucault. Das sind für ihn alles Denker, die davon ausgehen, daß das Selbst keine gegebene, sondern eine konstruierte Einheit darstellt. „Ein Selbst schaffen heißt, ein Charakter zu werden, jemand, der ungewöhnlich und unverwechselbar ist, ein Individuum“

(S. 18). Und das gilt wohl für die hier gewählten Figuren der Philosophiegeschichte ganz besonders ausgeprägt.

Der Erste Teil („Schweigen“) des Buches befaßt sich in drei Kapiteln mit der Ironie des Sokrates, weil sie in der Konzeption der Lebenskunst, wie sie Nehamas versteht, eine besonders wichtige Rolle spielt. Im Unterschied zu anderen Interpreten weigert er sich, diese sokratische Ironie als eine bewußte Täuschung anzusehen. Ironie als Differenz zwischen Gemeintem und Gesagtem scheint wie eine Maske zu wirken: „Sie zeigt nicht, was sich oder ob sich überhaupt etwas dahinter verbirgt. Sie läßt Tiefe vermuten. Aber sie garantiert nicht deren Vorhandensein“ (S. 110). Und so meint denn auch Nehamas, daß selbst Platon, der eigentliche Schöpfer der literarischen Gestalt des Sokrates, ihn nicht enträtseln konnte.

Im Zweiten Teil („Stimmen“) werden in drei Kapiteln die Beziehungen von Michel de Montaigne, Friedrich Nietzsche und Michel Foucault zu Sokrates untersucht. Dabei geht der Autor davon aus, daß sich Montaigne seinen eigenen Sokrates geschaffen hat, von dem her er dann sich selbst entwerfen kann. Für Nietzsche und seinen kritischen Umgang mit Sokrates gilt die Feststellung, daß selbst der, der Sokrates verwirft, dazu verdammt ist, ihm nachzueifern (vgl. S. 75). Bei Foucault werden - wenn auch nur knapp - seine verschiedenen Entwicklungsphasen und deren wesentlichen Beweggründe nachgezeichnet, um sich dann aber vor allem mit seinen letzten Vorlesungen zu beschäftigen und dabei der „Sorge um das Selbst“ nachzugehen.

Auf den letzten Seiten seines Buches, das übrigens mit einem gewaltigen wissenschaftlichen Apparat von knapp 90 Seiten ausgestattet ist, macht der Autor mit einem gehörigen Schuß eigener Ironie darauf aufmerksam, daß auch er - wie die anderen Interpreten - eine ganz eigene Ausdeutung des Sokrates gegeben hat. Er habe sich in der Beschäftigung mit den verschiedensten Quellen zu jenem Sokrates zurückführen lassen, „dessen Schweigen ich in den vielen Echos zu vernehmen suche“ (vgl. S. 248).


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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