Eine Rezension von Bernd Heimberger

Stolz und Schaden

Andreas Nachama/Julius H. Schoeps/Hermann Simon (Hrsg.): Juden in Berlin
Henschel Verlag, Berlin 2001, 264 S.

Kann eine Stadt ein Gefühl für Geschichte haben? Sie kann! Berlin hat wenig Gefühl für seine Geschichte. Hätte Berlin mehr Sinn für Geschichte gehabt, hätte Berlin (Ost) das Schloß stehen lassen und Berlin (West) den Anhalter Bahnhof. Das geborstene Gestein des Anhalter Bahnhofs, das Gestänge über den Bahnsteigen, wäre ein natürliches Holocaust-Denkmal gewesen. Vom Anhalter aus flohen zehntausende Juden Berlins in die Welt. Dieser Abschiedsort hätte ein gültiger Auskunftsort sein können.

Was Deutschland nach der Reichsgründung von 1871 wurde, ist nicht ohne Kenntnis der jüdisch-deutschen Geschichte, der Geschichte der Juden in Berlin, zu begreifen. Juden in Berlin ist ein neuer Band, der mehr sein möchte als eine Chronik jüdischen Lebens der Stadt, die das Zentrum des deutschen Judentums war wie die Juden der Kern des deutschen Bildungsbürgertums. Wertung, die Würdigung ist, haben die Herausgeber des Bandes, Andreas Nachama, Julius H. Schoeps, Hermann Simon, im Sinn gehabt, die auch als Autoren ihrer Publikation die Seiten stärken. Erstes und auffälligstes Merkmal des bildreichen Bandes ist, daß viele Fotos unverbraucht, das heißt unveröffentlicht sind. Also kein Anhalter Bahnhof, statt dessen der der Putlitzstraße, der einer der Deportationsbahnhöfe war. Das Buch ist eine Bild-Chronik, die Berlins jüdische Geschichte nicht auf nette Art anschaulich macht, sondern durch die bildhafte Darstellung eindringlich dokumentiert. Den Eindruck festigen die Wortbeiträge, die ebenfalls eher dokumentieren denn interpretieren. Bestes Beispiel dafür ist der Beitrag zur „Jüdischen Rundschau“ - faksimiliert wiedergegeben -, die am 4. April 1933 mit der Balkenüberschrift aufmachte: „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ Der artikulierte, verständliche Stolz war ein karger Trost, der angesichts folgender Tatsachen dem Singen im dunklen Walde gleichkam. Die Kapitel des Bandes Juden in Berlin machen klar, wieso das Selbst-Wert-Gefühl der Juden 1933 so groß war, daß man sich einen derartigen Aufruf leisten konnte. Was viele Juden nicht wahrhaben wollten, nämlich, daß ihre Leistung nichts mehr galt, ist selbst im Nachhinein schwer verständlich. Deutschlands Kraft war auch die Kraft der deutschen Juden. Der Band Juden in Berlin ist ein weiterer Beitrag, der damit bekannt macht, was Juden zu Ruhm und Reichtum der deutschen Hauptstadt beitrugen. Armes Deutschland, das mit der Verachtung seiner Juden seine mangelnde Selbstachtung offensichtlich machte! Das ist Gesetz: Es kann sich nicht achten, wer andere verachtet!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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