Eine Rezension von Bernd Heimberger

Kleinbürgerliche Kindheit

Detlev Meyer: Das Sonnenkind
Aufbau-Verlag, Berlin 2001, 188 S.

Letztenendes ist das Ende kein Ende. Am Schluß des letzten Buches von Detlev Meyer hätte stehen müssen: Fortsetzung folgt. Eine Fortsetzung wird es nicht geben, denn den Autor gibt es nicht mehr. Die Veröffentlichung seines Romans Das Sonnenkind hat der Schriftsteller nicht erlebt. War er doch kein Sonntagskind, der Detlev Meyer (1950 – 1999)? Er war’s, denn er war einer der talentiertesten Erzähler der nach 1945 geborenen Generation, die den Ballast der Kriegsväter und Nazigroßväter aufgehalst bekam. Davon ist, dann doch, auch immer wieder in den Büchern von Detlev Meyer die Rede. Oft am Rande, doch so, daß der Rand nicht zur belanglosen Nebensache wird. Nicht anders in Das Sonnenkind. Hauptfiguren des Romans sind das Sonnenkind Carsten und dessen Großvater Max. Sie lieben das Schöne, das Genußvolle. Sie sind Charmeure: Großpapa wie Enkel. Sie lieben sich: der Neunjährige und der Endsechziger.

Meyers Roman füllt gleichzeitig mehrere Muster der Literatur aus. Erzählt wird eine Großvater-Enkel-Beziehung. Erzählt werden Geschichten dreier Generationen einer Familie. Erzählt werden Geschichten der Mieter eines Hauses. Erzählt werden Geschichten der Bewohner einer Straße. Die Familien-Haus-Straßenchronik macht aus dem Roman keinen Kiez-Roman und schon gar keinen Stadtroman. Bei Meyer wird Berlin zum Dorf, zu Rixdorf, wie Berlin-Neukölln hieß, bevor die Ackersiedlung allmählich verstädterte. Treffend, wie unzutreffend, könnte Das Sonnenkind auch Roman einer Kindheit genannt werden. Die letzten Tage der Kindheit eines Knaben sind der Anlaß für die Erzählung. Carstens Kindheit endet mit dem Tode des Großvaters. Die Vier-Sektoren-Stadt ist noch keine getrennte Stadt.

Detlev Meyer erzählt mit Freude Szenen des Lebens des deutschen Kleinbürgertums. Das bezieht seine Größe und Noblesse aus den abhängigen Bindungen an Größe und Noblesse des Groß-bürgertums wie des Adels. Im Roman werden Szenen des kleinen, nie kleingemachten Lebens geschildert, das sich nicht in Klischees erschöpft, doch Vollkommenheit erreicht. Geläufiges wiederzuerkennen wird vielen Lesern viel Vergnügen machen. Meyer karikiert das Kleinbürgertum nicht. Er charakterisiert kleinbürgerliche Formen, indem er das kleine, gewöhnliche Leben mit Respekt sieht, sprich beschreibt. So wird von der Größe des Gewöhnlichen erzählt. Die unverhohlene Genugtuung des Schriftstellers ist zu spüren, von den Beziehungen der Menschen zu berichten, die es verstehen, im Unglück ihr Glück zu ermöglichen, im Gegeneinander das Miteinander gewinnen zu lassen. So wenig Karikatur ist, manches scheint kaschiert. Offensichtlich wollte der Schriftsteller, daß das Erinnerte schön bleibt. Weil es so schön dann doch nicht gewesen ist? Den Lesern soll das Schmunzeln erhalten bleiben, das bereits nach den ersten Seiten des Buches in ihren Mundwinkeln ist. Die gute, das heißt genaue Art des Erzählens, macht es schwer, dem Schriftsteller nicht schmunzelnd zu folgen. Gewicht bekommt alles Erzählte, weil der Erzähler gewichtet. Der alles überschauende, Distanz wahrende Autor hat Seh- und Sichtweisen des Kindes wie des Alten in ihrer vollkommenen Unvollkommenheit bewahrt.

Wem es möglich ist, in dem Kind Carsten Scholze den Schriftsteller Detlev Meyer zu sehen, das heißt den Gebildeten und Gepflegten, den immer anspruchsvollen Ästheten, wird schneller Tränen spüren. Die der Freude und Trauer. Die Freude, daß Detlev Meyer so einen Roman geschrieben hat. Der Trauer, daß der nicht mehr da ist, der die Fortsetzung hätte schreiben müssen. Detlev Meyer hat gewußt, daß selbst Sonnenkinder nicht immer und ewig Sonntagskinder sind.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite