Eine Rezension von Bernd Heimberger

Rat für'n Ratgeber!?

Frank Rainer Max und Christian Ruhrberg (Hrsg.): Reclams Romanlexikon
Deutschsprachige erzählende Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2000, 1183 S.

Nanu! Das hat man doch im Haus: Reclams Romanlexikon, in einer handvoll handlicher reclamgelber Bändchen. Romanlexikon steht drauf, und drin ist auch so mancher andere erzählende, chronistische Prosatext. Dafür Dank dem Stuttgarter Verlag und seinen Herausgebern. - Nun kommt’s aber dicke! Was Frank Rainer Max und Christian Ruhrberg portionsgerecht in fünf Nummern der Universal-Bibliothek unterbrachten, ist jetzt in einen kiloschweren Band gestopft worden. Gab’s je ein Buch mit solchem Gewicht bei Reclam? Reclams Romanlexikon ist eine mächtige Matrone geworden. Nicht Furcht einflößend, vertraut man sich der verläßlichen Fülle an. In Leinen gebunden, auf bestem Papier gedruckt, ist das Einbändige so repräsentativ, daß Reclam damit um Renommee buhlen kann. Da die Ausgabe nicht nur zusammenfaßt und aufbauscht, ist die Großausgabe eine aktualisierte Fassung. Was Romanlexika der Bundesrepublik nicht schafften und auch nicht das einzige in der DDR herausgebrachte Romanlexikon, versucht Reclams Romanlexikon, das die „Deutschsprachige erzählende Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ vereint. Es versucht, vorurteilsfrei, einen Überblick über wesentliche, bleibende Prosawerke zu geben, und muß scheitern. Die Edition ist die Arbeit „westlicher“ Germanisten, die einige östliche Kollegen geschluckt haben. Das Übliche also? Wird in der Sache die Probe aufs Exempel gemacht, wird offensichtlich, was das Problematische ist. Zweifel kommen auf, ob die Sachkundigen sachlich und kundig genug sind, die entschieden, was ins Lexikon gehört.

Wer will Anstoß daran nehmen, daß Leonhard Franks Novellensammlung Der Mensch ist gut ebenso berücksichtigt wurde wie Vicki Baums Roman Menschen im Hotel. Sind Frank und Baum akzeptiert, müßte auch Eduard Claudius' Menschen an unserer Seite beachtet werden, dessen Roman die Chronik der erzählenden deutschsprachigen Literatur ebenso differenziert wie der nicht versäumte Roman Volk ohne Raum von Hans Grimm. Claudius als Teil der „Literatur der Arbeiterklasse“ gesehen, teilt das Schicksal der Literatur aus der Arbeitswelt und über die Arbeitswelt. Eher ab-, denn anwesend, muß der gut bedachte Max von der Grün die Alibi-Figur für die „Arbeiterliteratur“ machen. Damit ist der Mangel nicht ausgemerzt. Milde formuliert: Die Proportionen stimmen nicht. Oder stimmt etwas nicht mit der Auswahl-Urteils-Fähigkeit der Herausgeber? Warum auch die meisten der vielgelesenen DDR-Autoren keine Zeile ins Lexikon bekamen, müssen sie sich wohl selbst fragen. Das Romanlexikon von Reclam ist keine literaturgeschichtliche Chronik. Es ist eine Addition deutschsprachiger Prosaliteratur, die bürgerlichen Bildungsauffassungen und -ansprüchen entspricht. Meinten wir nicht, schon ein schönes Stück weiter zu sein? Anfang des 21. Jahrhunderts? Was tun? Mehr Literaturgeschichte wagen? Einem Romanlexikon kann auch das zugemutet werden. Einem aus dem Hause Philipp Reclam jun. sowieso. Sollten sich die Stuttgarter doch mal Rat holen von den Leipzigern?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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