Eine Rezension von Bernd Heimberger

Traum-Wandler der Welt

Die Lesbarkeit der Träume
Hrsg. von Lydia Marinelli, Andreas Mayer.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2000, 278 S.

Irgendwann überholt die Literatur zur Literatur die Literatur. Sigmund Freuds inzwischen hundertjährige Epochenschrift „Die Traumdeutung“ ist im Laufe eines Jahrhunderts von derart vielen Deutungen zugeschüttet worden, daß alle Interpretationen die Frage aufwerfen, wieviel Original ist noch in den Interpretationen? Muß das so sein, daß das Original dominiert? Psychoanalyse ohne Freud ist nicht denkbar, aber viele Analysen ohne Freud. Traumdeutung ohne Freud ist nicht denkbar, doch viele Traumdeutungen ohne Freud. „Die Traumdeutung“ ist keine Bibel und Freud nicht der Unfehlbare. Reinheitsgebote sind nicht gewünscht. Unüberschaubar ist, was zur Lesbarkeit der Träume zusammengekommen ist. Das wachsende Material immer neu zu konzentrieren wird immer wieder erforderlich. Ein Komprimat ist das von Lydia Marinelli und Andreas Mayer verantwortete Buch „Die Lesbarkeit der Träume“. Das ist ein wissenschaftliches Kolloquium „Zur Geschichte von Freuds ‚Traumdeutung‘“. Keinesfalls eine Chronik, die von den Wegen berichtet, die das Manifest der Psychoanalyse nahm. Die Neugier der Laien will die Publikation nicht wecken, befriedigen könnte sie die ohnehin nicht. Ist den beteiligten Wissenschaftlern auch die indirekte Korrespondenz nicht abzusprechen, der Kontakt zu Außenstehenden ist nicht das, was sie anstreben. Jeder spricht zuerst für sich und eine Sprache, die so schwer zugänglich ist wie die Welt der Träume dem analytisch-ungebildeten Träumer. Verständliches über die Vor- und Nachteile der Freud-Auslegungen zu erfahren heißt, anderswo nachzuschlagen. Die Ausführungen der Beiträger des Bandes - keine Auseinandersetzungen - zu den Vor- und Nachteilen der Auslegungen sind nichts für Anfänger. Wissenschaft zahlt oft den hohen Preis, im Wortwald herumzuirren. Nicht nur am Anfang oder Schluß der Aufsätze sind Sätze zu lesen wie: „Der Preis für die Entzauberung“ - des Traums - „ist die Ambivalenz gegenüber der Kunst und die Vernachlässigung der konstruktiven Rolle der Phantasien bei der Bildung der Träume.“ Eines eint alle Traumdeuter: Sie sind die Traum-Wandler der Welt!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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