Eine Rezension von Cristina Tudorica

Johann Lippet: Die Tür zur hinteren Küche
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2000, 320 S.

Die letzten Jahrzehnte der rumäniendeutschen Literatur zeichnen sich hauptsächlich durch Lyrik und Kurzprosa aus. Literaturkritiker haben häufig über die Gründe dieser Entwicklung gerätselt und eine wichtige Rolle der sprachlichen Situation zugeschrieben: Das öffentliche Leben innerhalb des von der rumänischen Sprache geprägten institutionellen Rahmens - hieß es - ließe sich mit deutschen Sprachmitteln nicht adäquat erfassen. Namen von Institutionen und Autoritäten könnten zwar übersetzt werden, würden aber eine breit angelegte epische Darstellung steril und fremd erscheinen lassen.

Johann Lippet gelingt mit seinem Buch Die Tür zur hinteren Küche ein mehrfacher Durchbruch: Er widerlegt die Hypothese von der sprachlichen Unzulänglichkeit und legt einen Roman vor, der durch das gelungene Zusammenspiel von komplexer Thematik und erzählerischem Können alles andere übertrifft, was die moderne rumäniendeutsche Literatur auf dem Gebiet der epischen Gattung hervorgebracht hat. Damit situiert sich der Autor außerhalb der subjektivistisch-introspektiven Tendenz, die vor allem durch die Kurzprosa von Herta Müller geprägt wurde.

Das verbindende Element der Handlung ist die Familiengeschichte der Lehnerts. Um sie herum webt sich ein Netz von Beziehungen, das Verwandte, Bekannte, Nachbarn und Freunde einschließt. Anton und Maria Lehnert kehren 1956 nach überstandener Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit mit ihren in Österreich geborenen vier Kindern in das kleine, 178 Hausnummern umfassende banatschwäbische Heimatdorf Wiseschdia zurück. Als Anton Lehnert 1985 stirbt, sind die restlichen Familienmitglieder entweder ausgewandert oder schon tot.

Das schrittweise Ableben der banatschwäbischen Bevölkerung wird im Gesamtzusammenhang der Wertedegradierung in der rumänischen Gesellschaft der Nachkriegszeit betrachtet. Als einziger Schriftsteller seiner Generation überschreitet Lippet den Rahmen der Minderheitenproblematik und stellt die Auswirkungen eines totalitären Systems auf die Entwicklung von Individuum und Gemeinschaft, auf die Wechselbeziehung zwischen persönlichem und kollektivem Schicksal dar, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.

Ein derartiges „landübergreifendes“ Ereignis ist die 1945 eingeleitete Agrarreform. Sie hatte Enteignungen bei der Mehrheit und den Minderheiten als Folge:

„Nun war die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung von Wiseschdia Mitglied der Kollektivwirtschaft, und aus selbständigen Bauern war eine Bauernschaft geworden“ (S. 45).

Dieser Prozeß, der nichts anderes als die Zerstörung eines Agrarlandes mit Tradition bedeutete, wird in seinen folgenschweren Auswirkungen über den gesamten Verlauf des Romans beschrieben. Die Zwischenbilanz ist ernüchternd einfach:

„Ein Großteil der Leute des Dorfes war wohlhabend geworden im Vergleich zum ersten Nachkriegsjahrzehnt. Sie arbeiteten in der Kollektivwirtschaft und pflanzten ihr Gemüse für den Export in den Hausgärten“ (S. 159).

Das geschah in einem Land, wo der Rhythmus des Lebens noch von den ursprünglichen Naturereignissen bestimmt wurde und wo die Menschen viel eher den Monat, in dem die Kuh gekalbt hatte, im Gedächtnis behielten als Gagarins Weltraumflug.

Letzten Endes geht alles zugrunde, weil es keinem gehört und keiner sich zuständig fühlt. Eines von vielen Beispielen ist die Umweltverschmutzung:

„Vier Jungs in Karls Alter hatten trotz des Verbots ihrer Eltern im Wasserloch gebadet und einen merkwürdigen Ausschlag bekommen. Der Sumpfteich, hinter dem Maulbeerwald nach Triebswetter gelegen, war mit den Jahren durch die Mistbeete, welche die Kollektivwirtschaft an seinen Ufern anlegte, verseucht worden. Die Jauche hatte das Wasser bräunlich gefärbt, das Schilfrohr, das früher mal mehr als die Hälfte der Teichfläche einnahm, war abgestorben, Vögel und Frösche verschwunden“ (S. 172).

Das Leben wird zum Über-Leben. Das Geld, durch harte Feldarbeit erworben, reicht kaum für die Befriedigung der Grundbedürfnisse aus.

Die laut und stark propagierte Chancengleichheit aller sozialen Schichten äußert sich unter anderem darin, daß Susanne, der Tochter der Lehnerts, ein Stipendium für das Studium verweigert wird, weil die Nebenverdienste ihres Vaters, bezogen auf die LPG-Einkünfte, als zu hoch eingestuft werden.

Das auf Unterdrückung und Restriktionen basierende System fordert regelmäßig seine Opfer: Der Lehrer Jakob Burger erhängt sich aus Angst, sein Dossier würde überprüft. Der Sohn der Lehnerts stirbt beim Versuch, heimlich die Grenze zu überschreiten: „Offiziell war Kurt Lehnert durch einen Unfall ums Leben gekommen, vom Traktor überrollt“ (S. 194). Anni Faulhaber, Susannes Freundin, wirft sich vor den Zug. Die einzige Konstante eines von Entbehrungen gezeichneten Daseins ist die Ausweglosigkeit: „Sie hatten ein Leben lang gearbeitet, damit es den Kindern mal besser gehe, und lebten in der Angst, keine Zukunft mehr zu haben“ (S. 193).

Hier ist ein subtiler Beobachter am Werk, ein Autor, der das erzählerische Handwerk versteht: Jede Begebenheit, selbst belanglos erscheinende Vorfälle finden ihre Entsprechung jenseits des oberflächlich ruhig dahinfließenden Dorflebens im dichten Geflecht politischer, wirtschaftlicher und sozialer Mißstände. In diesem Umfeld müssen gewöhnliche Menschen - keine Helden und keine Dissidenten - ihren Alltag bewältigen. Das bedeutet, daß sie sich häufig in Grenzsituationen befinden, in denen die Entscheidung für oder gegen ein moralisch integres Verhalten aus einer Gewissens- zu einer Überlebensfrage wird. Anton Lehnert richtet sich nach dem Grundsatz: „Die sollen machen, was sie wollen, und ich mach, was ich will“ (S. 165). Ein totalitäres System duldet aber keine Einzelgänger. Symbolisch für Anton Lehnerts kompromißlose Haltung ist seine Weigerung am Ende des Romans, auf Befehl des Soldaten stehenzubleiben und sich der Ausweis- und Körperkontrolle zu unterziehen. Der Schuß tötet ihn, allein sein Ausruf: „In die Luft!“ (S. 320) ist Ausdruck seines letzten freien Entscheidungswillens.

Die sich über drei Jahrzehnte spannende Geschichte schafft gleichzeitig den Rahmen für eine aufmerksame Beschreibung jener wiederkehrenden Rituale, die das Leben der schwäbischen Gemeinschaft prägten und zusammenhielten. Ausführliche Schilderungen einer Hochzeitsfeier oder des Kirchweihfestes erscheinen als verlängerte Momentaufnahmen einer untergehenden Welt. Die Minderheitenexistenz hat sich auf patriarchale, steife Lebensformen reduziert, die das herannahende Ende hinauszögern, aber keine Grundlage für ein wirkliches Leben mehr sein können.

Das geerbte Haus im größeren Nachbarort Biled haben die Lehnerts verkauft und damit auch den Gedanken aufgegeben, dahin überzusiedeln: „Ein Radio hatten sich die Lehnerts von dem Verkaufserlös trotzdem gekauft. ‚Autofahrer unterwegs‘ aus Wien und die Hitparade des Saarländischen Rundfunks waren ihre Lieblingssendungen“ (S. 129). Daß auf diese Weise und durch das Verfolgen der wöchentlichen deutschen Sendung im Fernsehen keine kulturelle Tradition weiterleben kann, liegt auf der Hand.

Das Verhalten gegenüber rumänischen Mitbürgern erscheint im Zusammenhang der auseinanderbröckelnden Minderheitenexistenz nur als verständlicher Ausdruck der Selbsterhaltungsstrategie. Die Rumänen gehören als notwendiges Übel zum Leben, werden aber in den engen Kreis der Minderheit nicht wirklich aufgenommen oder anerkannt.

Rosalia Potje hatte einen rumänischen Mann geheiratet, um der Verschleppung nach Rußland zu entkommen, was im Dorf über Jahre Anlaß zu abschätzigen Bemerkungen gewesen war. Anton Lehnert bricht die Beziehung zu seiner Tochter ab, als diese einen Rumänen heiratet.

Entscheidungen entstehen kaum noch aus freiem Willen, sondern viel eher als Gegenreaktion auf alltägliche Einschränkungen. Susanne heiratet nicht aus Liebe, sondern um die Auswanderungsformalitäten zu beschleunigen. Der obligatorische Anstandsbesuch ihres künftigen Mannes Richard Schmidt im Haus der Lehnerts, bei dem er um die Hand der Tochter anhält, hat nichts von der Aufbruchstimmung eines Neuanfangs:

„Kaffee tranken nur Susanne, Richard und Maria. Die Eltern sprachen von den verstorbenen Familienangehörigen, Richard und Susanne saßen schweigend nebeneinander. Dann lud Anton zu einem Rundgang durch Hof und Garten ein“ (S. 308).

Der Kreis der Hinterbliebenen wird immer enger, so eng, daß die Tochter durch die Eheschließung denselben Namen tragen wird wie ihre Mutter als Mädchen.

Man könnte meinen, die Hauptgestalt des Romans sei Anton Lehnert. In der zweiten Hälfte des Buches tritt aber seine Tochter Susanne in den Vordergrund. 1951 in Wels geboren, studiert sie Germanistik und Romanistik in Temesvar, um anschließend als Deutschlehrerin zu arbeiten. Die biographischen Daten sind identisch mit denen des Autors.

Trotz unverkennbarer Realitätsbezüge ist der Roman viel mehr als eine Sammlung von Biographien. Lippet gelingt durch seine brillante Erzählkunst eine bemerkenswerte Leistung: Von den Seiten des Buches verbreitet sich mächtig und dunkel die Stimmung des Untergangs. Charaktere und Schicksale wirken in ihrer vergänglichen und kurzlebigen Erscheinung wie Bewohner eines immer enger werdenden Lebensraums, der schließlich verschwindet.

Am Ende des Romans wird die hintere Küche vom Milizmann der Gemeinde als Vertreter der Staatsgewalt betreten. Diese Handlung hat symbolischen Wert: Sie kommt der Verletzung eines geschützten Territoriums gleich. Damit hat sich jener magische Raum aufgelöst, der das letzte Refugium der Minderheitenexistenz gewesen war.

Ob die Auswanderung, als letzter möglicher Ausweg ins Unbekannte, Rettung und Leben bedeuten wird, ist zweifelhaft.

Das Gedicht „Die regelmäßige Steigerung“ aus dem 1994 erschienenen Band Abschied, Laut und Wahrnehmung nimmt das unausweichliche Ende vorweg:

„da war die vergangenheit
so tief wie ein loch
da war die gegenwart
so tiefer wie ein loch
da war die zukunft
der abgrund“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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