Eine Rezension von Crauss.

Michaela Lindner: Ich bin, wer ich bin
Ein öffentliches Leben als Mann und Frau.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2000, 346 S.

Die Person auf dem Schutzumschlag wirkt androgyn, der Hintergrund, vor dem sie steht, changiert in unterschiedlichen Türkistönen. Ebenso unentschlossen wie die Grün und Blau vereinigende Farbe war Michaela Lindner lange Zeit. Physisch noch ein Mann, Bürgermeister im anhaltinischen Quellendorf, fühlte sie immer stärker das weibliche Element in sich hervortreten. Vertuschen, verleugnen, die Verwirrung in Arbeit ertränken war zunächst das Mittel gegen die durch einen Zufall ausgelöste Unsicherheit. Bald jedoch half das nichts mehr, und Michaela Lindner wurde 1998 zu einem der bekanntesten transidenten Menschen Deutschlands, auf den Boulevard- und Sensationsmagazine neugierig waren, aber für den sich wenige ernsthaft interessierten. Eine war Ines Jakob, die für den WDR eine Langzeitstudie unternahm, ein paar weitere werden betroffene Transidente und deren Angehörige sein, die sich von Lindners Autobiographie Trost und Ratschlag erhoffen, ebenso wie die Autorin etwa aus Waltraut Schiffels’ schonungslosen Berichten neue Kraft für ihr durch Selbstmordgedanken bedrohtes Leben schöpfte.

Abgesehen vom schrillen Umschlag und einigen langatmigen Passagen wirkt die in Briefen verfaßte Autobiographie nicht wie Betroffenheitskitsch. Die 30 fiktiven Episteln an Eltern, Ehefrau und Freunde überschlagen mehr als 40 Lebensjahre, schildern Lindners Kindheit, die Studien- und Armeejahre in der DDR, den großen Einsatz für Jugendgruppen und Vereine eines Sozialmenschen, der fünf Jahre nach der Wende in das Amt des Bürgermeisters mündet und in ein kompliziertes Doppelleben. Wo die ersten Briefe noch mit dem männlichen Vornamen unterschrieben sind oder mit beiden Namen ( „such es dir selbst aus, dann mache ich keinen Fehler“), folgt ein zaghaftes „Michi“ und endlich das selbstbewußte Michaela. Am Ende der zwei Jahre 1998-2000, in denen Lindner Erinnerungsarbeit leistet, kann sie voll und ganz zu ihrer Weiblichkeit stehen. In die Episoden brechen immer wieder aktuelle Ereignisse herein: die Scheidung von der Ehefrau, der Verlust des Bürgermeisteramts, wobei einige vermuteten, daß es für die zu erledigenden Aufgaben doch gleichgültig sei, ob sie von einem Mann oder einer Frau erledigt würden. Im Prinzip ja, antwortet Lindner, allerdings sei 1995 in der Stellenausschreibung ausdrücklich ein Mann gewünscht gewesen und daher die „Abwahl“ nicht ganz unlogisch. Daß dies viele Quellendorfer Bürger und den Gemeinderat von der Verantwortung ihrer Vorurteile enthob, kam gerade recht. Für die Anzeichen der äußerlichen Veränderung Lindners, die sie vorher nicht wahrnehmen wollten, hatten sie nun eine Entschuldigung.

Bei der Erstkommunion empfindet es Lindner zum erstenmal als Nachteil, ein Junge zu sein: Er möchte gerne ein ebenso strahlend weißes Kleid tragen wie die Mädchen. Im unter Kindern beliebten Mutter-Vater-Kind-Spiel immerhin setzt er sich gegen seine Eltern durch. Er darf als Junge nicht die Mutter sein, also ist er fortan die Tante auf Besuch, die sich ebenso wie die Spielmutter um das Baby kümmern darf. Lindner wird die Nichtwahrnehmung der Unterschiede in der Rollenverteilung nicht bewußt. Er bemerkt damals einfach nicht die „Abweichung von meiner geschlechtlichen Identität. Ich verhielt mich ganz einfach nicht typisch männlich, ich erfüllte nicht die gängigen Klischees eines durchschnittlichen Jungen. Die künstlerische Betätigung und die Kirche prägten meine Persönlichkeitsstruktur und nicht der Sport oder Karl-May-Bücher.“ Er lernt, mit Kompromissen zu leben, sich zurückzuhalten. Während des Armeedienstes kommt er zum ersten Mal mit Homosexualität in Berührung und ist verunsichert, als er ohnmächtig der Schikanierung eines schwulen Soldaten zusehen muß. Die erste Liebesbeziehung zu einer Frau verläuft „wie in einem x-beliebigen Liebesroman“ , Lindner ist plötzlich sogar der Hahn zwischen zeitweilig drei rivalisierenden Hennen, heiratet aber dann, hat zwei Kinder. Als einen der Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben empfindet er den Fasching; in seinem Wohnort organisiert er große Feste und hat selbst einen Auftritt „als sterbender Schwan im Ballettkleidchen. Ich werde nie vergessen, wie die anderen in der Umkleide hinter der Bühne verblüfft zusahen, mit welcher Fertigkeit ich mich verwandelte, mich schminkte und künstliche Brüste trug.“ Was hier einen Anfang hat, wird zusehends schlimmer, ohne daß Lindner die in ihm vorgehende Veränderung benennen könnte. „Seit Monaten lebte ich heimlich eine neue Seite von mir aus. Unbemerkt [...] trug ich Strumpfhosen und Damenunterwäsche.“ Die Frage seiner Frau, ob er schwul sei, wird verneint. Beide wissen mit der Situation nicht umzugehen, eine anstrengende Zeit der Selbstverleugnung beginnt. Zum nächsten Faschingsfest ist eine Überraschung geplant: Lindner erscheint als schöne Fremde, singt ein Lied und verschwindet wieder. Was er selbst nicht für möglich hält: Kaum jemand erkennt ihn in der aufreizend weiblichen „Verkleidung“. „Aber bei einer kostümierten Frau versucht man vielleicht zunächst herauszufinden, wer die Frau ist. Die Idee war verwegen, und es war ein aufwendiger Vorwand für einen schlichten Grund: Ich wollte so gern mal Frau sein.“ Das Abnehmen des Bartes folgt, die erste Ganzkörperrasur, das Umkleiden: „Ich wollte lernen, in den hohen Schuhen zu laufen, aber da gab es nichts zu üben, es ging von allein.“ Vollkommen unerwartet öffnet sich die „Dose der Pandora“ , denn ab hier gibt es kein Zurück: „Ich zog das Kostüm aus, aber blieb die Frau. Ich behielt die Unterwäsche und den BH an, schminkte mich flüchtig ab, cremte mich aber sofort erneut ein. Ich lag im Bett und glitt mit den Fingern über meinen Körper. Ich nahm mich wahr, und ich nahm mich an, so wie ich war.“ Es folgt eine Flucht in die Arbeit, in kraft- und Zeit zum Nachdenken raubende Aktivitäten, aber auch die heimliche Kontaktaufnahme zur Schwulenszene in Leipzig und Berlin sowie der Besuch einer Prostituierten. Es dauert fast sechs Jahre und mehrere Selbstmordversuche, bis sich Lindner überhaupt irgendwo einordnen kann und zum erstenmal eine Selbsthilfegruppe für transidente Menschen besucht - 600 Kilometer von seinem Heimatort entfernt. „Ich schminkte mich und zog mich um. Heute würde ich mein damaliges Erscheinungsbild als „total aufgetranst“ beschreiben, der Rock war zu kurz, die Beine zu dick, die Bluse spannte über dem viel zu großen ausgestopften Busen, und die geschminkten Augen und Ohrringe paßten überhaupt nicht zum noch vorhandenen Schnauzbart.“ Langsam, Schritt für Schritt kommt eine nicht nur attraktive, sondern auch selbstbewußte Michaela Lindner heraus. Ihr Leben stellt sich vom Kopf wieder auf die Füße: „Immer hatte ich geglaubt, die einzige transidente Frau in Sachsen-Anhalt zu sein. Es waren so viele ...“ Zuerst erfährt die Familie von dem neuen Menschen, dann das Dorf und schnell ganz Deutschland. Nach den harten Monaten, in denen der Mann Lindner Job und Freunde verliert, die Familie, die sich distanziert und wegzieht, die Eltern, die auf Briefe nicht mehr antworten, versucht die Frau Michaela Lindner, Kraft zu schöpfen aus dem Musical „Ein Käfig voller Narren“ und aus dem Beistand ganz neuer, fremder Personen. Eine Odyssee durch verschiedene Städte, Beziehungen, Affären folgt, bis Michaela Lindner endlich wieder Halt findet und gefestigt als PDS-Abgeordnete im Kreuzberger Rathaus steht.

In der Zwischenzeit sind einige kuriose Szenen fällig, viele wissen mit einem undefinierbaren, androgynen Wesen nichts anzufangen. „Sicherlich sind die anderen Menschen ein Problem, aber mein Hauptproblem in dieser Zeit war ich selbst.“ Sie muß ihre Sexualität wie überhaupt ihre Identität neu entdecken. „Ich bin erst einmal offen für alles und würde alles akzeptieren, nur eines nicht: Ich will nicht Berufstranse sein.“ Die vielen Interviews und TV-Auftritte, die Lindner gibt, sind dann auch vielmehr eine Tugend in der Not. Über das Fernsehen versucht Lindner, Leute zu erreichen, die sonst nicht mehr mit ihr reden wollen. Zudem ist das zeitweise die einzige Einnahmequelle und Möglichkeit, einen Teil der hohen Schulden (für das neugebaute, jetzt leerstehende Haus) abzubezahlen und Geld für die angestrebte Operation zur Geschlechtsangleichung zu erhalten. Die gibt es jedoch nicht ohne Krankenversicherung, jene nicht ohne Namensänderung und diese nicht ohne festen Wohnsitz usw. „Die letzten Tage war ich auf dem Bahnhof Zoo. Ich habe ernsthaft überlegt, ob ich betteln oder auf den Strich gehen soll.“ Die positive Grundeinstellung zum Leben verhindert beides. Allerdings: „Der Weggang aus dem Dorf in die anonyme Großstadt war meine erste Niederlage als Frau.“ Irgendwann geht es langsam, aber allmählich bergauf: Kurz nach der Operation „kam ein Brief von meiner Mutter, an Frau M. Lindner. Ich habe mich riesig darüber gefreut.“

Ich bin, wer ich bin ist eine Erfolgsstory; Michaela Lindner geht sehr offen mit sich selbst um und spricht so am ehrlichsten anderen Betroffenen Mut zu bzw. bringt Menschen außerhalb der Thematik das Unerklärliche und gleichwohl Unabänderliche der Situation eines Lebens zwischen den Geschlechtern nahe. Die Geschichte, die erzählt wird, ist spannend zu lesen, bleibt aber mit ihren traurigen und teilweise tragischen Abschnitten hoffentlich eine unter wenigen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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