Eine Rezension von Volker Strebel

Letzter Zug in Richtung West!

Ludvík Kundera: Berlin
Aus dem Tschechischen von Vilém Reichmann und Edwin Kratschmer.
Mit einem Nachwort von Erwin Kratschmer.
VdG Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2000, 48 S.

Im gesamten Text findet sich kein Hinweis, welcher den Titel rechtfertigt. Aber man weiß, daß Ludvík Kundera, der Mentor der literarischen deutsch-tschechischen Nachkriegsbegegnungen, während des Zweiten Weltkrieges in Berlin zum Arbeitsdienst zwangseingesetzt war. Und es liegt eine kurze editorische Notiz vor, die darauf hinweist, daß dieser Novelle Erlebnisse zugrunde liegen, die der junge Philosophiestudent Ludvík Kundera während seines Aufenthalts im Zwangsarbeitslager Berlin-Spandau gemacht hat. Soweit, so schlecht!

Enttäuscht wird, wer sich von dieser kurzen Novelle einen wie auch immer gestalteten Bericht über diese schreckliche Zeit erwartet hat. Und auf seine Kosten kommt, wer sich tragen läßt von der Dichte der Bilde dieses mährischen Dichters. Ludvik Kundera, damals bereits Mitglied der surrealistischen Künstlergruppe RA, gelingt es in dieser Novelle, die Atmosphäre seiner Zeit absoluter Wirrnis zu bannen: „Da entfachen sich plötzlich Monologe, entzündet sich raschelnd ein Lächeln, blüht auf eine entblätterte Magnolie. So stellt sich Wachheit her. Aber die Himmel sind unstet, doch ich folg der ersten Serpentine der Ereignisse. Die Zeit rinnt hin, während ich Körnchen zu Körnchen trag.“ Die Wucht dieser Bilder und die Komprimiertheit der Abfolge erinnert an tschechische Dichter wie Ivan Blatný und doch handelt es sich bei Kunderas Text nicht um irgendeine experimentelle Spielerei. Dieser spezifische Surrealismus kam im Angesicht des tagtäglichen Unentschiedens zwischen Leben und Tod zustande – eine völlig neue Ausgangssituation, die von keinem avantgardistischem Theoretiker jemals bedacht worden war. Zwar treten rhetorische Figuren aus dem surrealistischen Arsenal auf, wie zum Beispiel die Vertauschung des eigenen Ich mit einem anderen – im vorliegenden Falle verwechseln sich Georg und Ludwig absichtlich zum Scherz – doch die real existierende Brutalität läßt keinen Humor zu. Es herrscht im Zeichen der allgemeinen Konfusion ein Verlust der Identität schlechthin: „Georg und ich, Ludwig und ich. Die Frauen bei Tag und Nacht. Die Kulissen stürzen, Musikkapellen dröhnen uns in den Schlaf. Marschtritt in langen Kolonnen. Der Rhythmus unzähliger Schritte. Und Züge.“ Und Bahnhöfe auch, einem klassischen Topos des Surrealismus: „Letzte Züge in Richtung West!“

Die für den Surrealismus typische Mehrfachperspektivik in der Wahrnehmung und Beschreibung von Sinneseindrücken erlebt unter den Umständen der Todesbedrohung eine makabere Bewährungsprobe. Der Leser erlebt keinen wie auch immer ausgerichteten pädagogischen Zeigefinger, keinerlei Belehrung, sondern die Anhäufung sich überlappender sinnlicher und sinnhafter Eindrücke. Ludvík Kundera schrieb diesen Text 1944 in Brünn nieder, als er dem Berliner Orkus entwichen war. In den folgenden Jahrzehnten hielt er seiner mährischen Heimat die Treue, doch mußte er die Schikanen einer totalitären Diktatur erneut über sich ergehen lassen.

Heute lebt Ludvík Kundera 80jährig in Mähren. Seine mit Büchern und Blättern vollgestopfte Wohnung ist dem 20. Jahrhundert treu geblieben. Am Marktplatz versammeln sich hinter unscheinbarer Fassade die Autographen bedeutender Dichter und Maler. Als überzeugter Surrealist ist Ludvík Kundera, der neben Übersetzungen, Gedichten und Texten auch Malerei produziert, selbstverständlich jung geblieben. Zu danken ist Professor Kratschmer vom Collegium Europeanum Jenense, der mit seiner verwirklichten Idee der „Geretteten Texte“ in der zweiten Folge dieses eindrucksvolle Bändchen ermöglicht hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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