Eine Rezension von Ursula Reinhold

Emanzipationsversuche

Cordula Koepcke: Lotte Warburg. „Unglaublich! Daß ich gelebt habe!“
Eine Biographie.
IUDICIUM Verlag, München 2000, 264 S.

Die Autorin ist schon mit Biographien zahlreicher historischer Persönlichkeiten hervorgetreten, u. a. schrieb sie Bücher über Ricarda Huch, Louise Otto-Peters, Jochen Klepper und Reinhold Schneider. Die vorliegende Biographie ist einer in der historischen und aktuellen Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Frau gewidmet, die allerdings aus einer bekannten Familie stammt. Der eine Zweig der Familie Warburg begründete im kaiserlichen Deutschland ein einflußreiches Bankhaus, während aus einem anderen Familienzweig verdienstvolle Gelehrte hervorgegangen sind. Der Vater von Lotte Warburg, Emil Warburg, war Physiker, seit 1905 Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, er war Freund Albert Einsteins und Max Plancks. Auch der Bruder Otto Warburg war ein bekannter Gelehrter, erhält für seine Ergebnisse in der Krebsforschung den Nobelpreis. Die Tochter, Lotte Warburg (1884 – 1948), wächst in einem bürgerlichen Milieu, im Kreis bekannter Naturwissenschaftler auf. Früh schon sucht sie eigene Wege, führt Tagebuch und beginnt, Erzählungen und Gedichte zu schreiben. Sie unterhält über Jahrzehnte hinweg einen Briefwechsel mit dem Kunst- und Literaturkritiker Heinrich Wölfflin, der Anteil an ihrer Entwicklung nimmt und sie bei ihrer schriftstellerischen Arbeit ermuntert. Zugleich hat sie zu ihm eine wechselvolle Gefühlsbindung mit ambivalenten widersprüchlichen Empfindungen.

Die Biographie entstand auf der Grundlage des schriftlichen Nachlasses – Tagebücher, Briefe, Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays, die zu Lebzeiten der Verfasserin weitgehend unveröffentlicht blieben und aus denen erst in den letzten Jahren Teile publiziert wurden. So erschienen 1997 unter dem Titel „Etwas für die Phantasie“ Teile des Briefwechsels mit Heinrich Wölfflin sowie Erinnerungen und Erzählprosa von Lotte Warburg; außerdem wurde 1989 eine Auswahl aus ihren Tagebüchern publiziert, die sie zwischen 1925 – 1947 schrieb. Für das vorliegende Buch wurden weitere Unterlagen aus dem Familienarchiv zur Verfügung gestellt, so daß die Autorin die Biographie von Lotte Warburg ziemlich lückenlos rekonstruieren konnte. Sie befragt sie als Beobachterin deutscher Geschichte, deren Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts über den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution, über das Ende des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und das Aufkommen der Naziherrschaft bis zu deren Ende gespannt ist. Es ergeben sich die Umrisse einer Frauenpersönlichkeit, die gegen die durch die Konventionen der Zeit festgelegte Lebensrolle revoltiert und zugleich innerhalb bürgerlicher Familien- und Gesellschaftsvorstellungen verbleibt. Nach einer kurzen mißlungenen Ehe kehrt sie zurück ins Berliner Elternhaus. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges bewegt sich ihre Gemütsverfassung zwischen nationalistischem Rausch und Beängstigung. Als Krankenschwester in verschiedenen Lazaretten erlebt sie das Elend des Krieges, Verzweiflung und Tod der Soldaten. Diese Eindrücke führen zu einem menschlichen Reifeprozeß, der das eigene von Gefühlszwiespälten aufgewühlte Ich in den Hintergrund geraten läßt. Es schärft sich die Fähigkeit zur nüchternen Analyse und zu präzisem sprachlichem Ausdruck für das gesehene Menschenelend. Nach dem Krieg schließt sie eine nach bürgerlichen Maßstäben gute Ehe, sie heiratet Gottfried Meyer-Viol (1878 - 1944), einen Diplomingenieur, dem ein Familienerbe ein freizügiges Leben gestattet. Sie werden zwei Kinder haben und leben jahrelang in Schweizer Hotels. Später erwerben sie das bayrische Landgut Grunau, das für die Frau bis ans Lebensende zum Inbegriff von Heimat und Behaustheit werden soll. So übersteht die Familie Inflation und Wirtschaftskrise der Weimarer Zeit in gehobenen und sicheren Lebensverhältnissen. Als Mitbegründer der „Deutschen Volkspartei“ ist der Mann eine bekannte Persönlichkeit der Weimarer Republik und nach 1933 Repressalien ausgesetzt. Da ein Teil des Familiengeldes in Holland angelegt ist, ermöglicht das der Familie auch im Exil eine einigermaßen zuträgliche Existenz. Nach dem Kriege kehrt die Familie ins heimatliche Grunau zurück, Lotte Warburg ist Beobachterin auf dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß. In Artikeln, die sie für die Schweizer Presse schreibt, teilt sie die Ressentiments vieler Deutscher gegen das alliierte Tribunal der Sieger. Die Biographin rekonstruiert aus dem nachgelassenen Material die Lebenskurve einer bürgerlichen Frau, die einen kritischen Blick für ihre Umgebung hat und so auch die Zeit kritisch reflektiert, die sie durchlebt. Allerdings verläßt sie dabei niemals den bürgerlichen Horizont ihrer Herkunft, nimmt politische und soziale Auseinandersetzungen nur als Formen von persönlichem Neid wahr. Ihre Sicht auf die Zeit bleibt von den Widersprüchen ihrer eigenen Existenz bestimmt. Deren Zwiespalt besteht in der Suche nach eigenem, persönlichem, vor allem emotionalem Ausdruck und der Gebundenheit an bürgerliche Konventionen, wie sie vor allem in entsprechenden Vorstellungen von Ehe und Familie weiterwirken. Dennoch werden ihre Hinterlassenschaften zum Spiegelbild der Zeit, da sie an emanzipatorischer und politischer Urteilsfähigkeit gewinnt. Für mich war vor allem das sozial-psychologische Profil einer bürgerlichen Frau aufschlußreich, die von den Emanzipationsbestrebungen ihrer Zeit berührt wird, ohne den Schritt aus der überkommenen Prägung heraus machen zu können. Diese spannungsreiche intellektuelle Existenz zeichnet die Biographin an Hand der Hinterlassenschaften einfühlsam nach. Die Frage nach dem literarischen Wert der Hinterlassenschaften läßt sich nach den von der Autorin gebotenen Beschreibungen und Analysen nicht beantworten. Interessant sind gewiß die Persönlichkeitsprofile von berühmten männlichen Zeitgenossen, die sie im Elternhaus und späterhin kennenlernte. Solchen Persönlichkeitsprofilen geht sie auch in erzählerischen Versuchen nach, zeichnet die Problematik des berühmten und genialen Mannes, der in seinem Familienzusammenhang fremd bleibt. Sie sucht sich der Stellung von Frauen und Töchtern in solchem Kontext erzählerisch anzunähern.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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