Eine Rezension von Eberhard Fromm

Den Freitod enträtseln

Kay Redfield Jamison: Wenn es dunkel wird.
Zum Verständnis des Selbstmordes.
Siedler Verlag, Berlin 2000, 415 S.

Die Autorin - sie lehrt als Professorin für Psychiatrie an der John Hopkins University School of Medicine - ist eine Autorität auf dem Gebiet psychischer Krankheiten. Selbst einmal manisch-depressiv erkrankt, hat sie ihre eigene Geschichte bis hin zum Selbstmordversuch in dem Buch Meine ruhelose Seele (1977) erzählt. Was sie jetzt vorlegt, ist eine geradezu monumentale Abhandlung zum Problem des Freitods, des Selbstmordes, des Suizids - oder wie immer man die Selbsttötung auch nennen will. Ich habe selten ein so engagiert geschriebenes Buch zu diesem Thema gelesen, das weder verurteilt noch beschönigt, sondern allein sachlich aufklären will. Es trägt ganz sicher unerhört viel zum Verständnis des Selbstmordes bei, allerdings mit einer Einschränkung, die die Autorin auch selbst macht: Ihr Interesse gilt dem Selbstmord bei Menschen, die jünger als vierzig Jahre sind. Der Selbstmord bei älteren Menschen sei ein eigenes Thema, dem hier nicht nachgegangen wird.

Akzeptiert man diese Einschränkung - vielleicht hätte der Untertitel bereits darauf verweisen können („Zum Verständnis des Selbstmordes bei Menschen bis vierzig“) -, dann findet man ein überaus reiches Material zu diesem so brisanten Thema. Allein die Anmerkungen (S. 311-399) füllen über 80 Seiten. Gesucht und gefunden werden Antworten auf die Frage, „warum sich jemand das Leben nimmt, warum der Selbstmord zu den wichtigsten Problemen des Gesundheitswesens gehört und wie er verhindert werden kann“ (S. 27).

Daß der Freitod ein gesellschaftliches Phänomen von eminenter Bedeutung ist, belegen viele Zahlen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsbehörde (WHO) für das Jahr 1998 kamen von den 54 Millionen Todesfällen in der Welt 1,8 Prozent auf das Konto von Selbstmördern. Allein in den USA sterben jährlich 30 000 Menschen durch eigene Hand; bei jungen Menschen ist der Selbstmord die dritthäufigste Todesursache, bei Collegstudenten steht sie sogar an zweiter Stelle. In China nahmen sich 1990 über 180 000 Frauen und 159 000 Männer das Leben.

In vier größeren Abschnitten mit insgesamt zehn Kapiteln und drei Essays werden die verschiedenen Problemfelder des Selbstmordes behandelt. Nach einigen einführenden Kapiteln geht es in einem größeren Block um Psychologie und Psychopathologie des Selbstmords. Bei aller Betonung der Vielfältigkeit der Motive für den Freitod, auch unter Berücksichtigung, daß meist längst nicht alle Beweggründe aufgeklärt werden können, geht die Autorin doch davon aus, daß fast immer ein psychopathologischer Grund vorhanden ist. Beinahe definitorisch heißt es: „Der Selbstmord ist ein höchst individueller Akt und zugleich ein stereotyper und vielen Menschen, die an schweren psychischen Erkrankungen leiden, gemeinsamer Endpunkt. Es gibt keine Krankheiten und keine Umstände, die zwangsläufig zum Selbstmord führen, aber es gibt Anfälligkeiten, Krankheiten und Ereignisse, die bestimmte Menschen eher als andere in den Selbstmord treiben“ (S. 101). Damit wird die entscheidende Sichtweise des Buches deutlich: Es geht um den krankhaften Hintergrund bei der Masse der Selbstmörder. Denn nach Auffassung der Autorin und der Mehrheit der von ihr zitierten Quellen stellt eine akute psychische Erkrankung den häufigsten und gefährlichsten Auslöser für einen Selbstmord dar.

Darum wird der Biologie des Selbstmordes eine solche Aufmerksamkeit geschenkt, wird die Frage nach genetischen Aspekten des Freitods an umfänglichem Material untersucht. Schließlich geht es um eine gesellschaftlich gesicherte Selbstmordprävention. Hier spielen die medikamentöse Behandlung und die Psychotherapie ebenso eine Rolle wie die Einstellung des ganzen Gesundheitswesens. Schließlich wird auf die Betreuung der Hinterbliebenen eingegangen. Als ein großer Fortschritt für die USA wird herausgestellt, daß - allerdings erst 1997 - der amerikanische Senat eine Vorlage beschlossen hat, in der der Selbstmord als nationales Problem anerkannt und die Selbstmordprävention zur vorrangigen Staatsaufgabe erklärt werden.

Das Buch von Kay R. Jamison besticht durch die Art, wie diese sensible Problematik dargestellt wird. Man liest dieses Buch durch die sachliche Beweisführung, die massiven Belege, nicht zuletzt auch die statistischen Angaben stets wie eine wissenschaftliche Abhandlung. Zugleich wird man durch die vielen sehr individuellen Schicksale, die immer wieder eingeblendet werden, auch emotional in den Klärungsprozeß einbezogen. Und nicht zuletzt überzeugt, wie die Autorin jede Einseitigkeit vermeidet: Sie akzeptiert die philosophisch-ethische Diskussion zum Freitod, beharrt aber auf der gleichberechtigten Nutzung der vorhandenen medizinischen, psychologischen und soziologischen Erkenntnisse; sie favorisiert die Auffassung vom krankhaften Hintergrund bei Selbstmord, läßt aber auch die Meinung vom Freitod als freie Willensentscheidung zu Wort kommen; und nicht zuletzt polemisiert sie energisch gegen jedwede moralisierende Be- oder gar Verurteilung des Selbstmords. „Selbstmord ist kein Schandfleck auf irgend jemandes Namen - er ist eine Tragödie“, heißt es dazu bei ihr (S. 223).

Das Anliegen der Aufklärung über das oft noch tabuisierte Problem des Freitods ist so tatsächlich gelungen. Zugleich weiß man aus eigener Erfahrung, wie hilflos Menschen immer noch sind, wenn sie mit einem Selbstmord konfrontiert werden. Und man versteht am Ende, warum die Autorin geradezu beschwörend erklärt: „Die Kluft zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir tun, ist tödlich“ (S. 31).


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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