Eine Rezension von Thomas Böhme

Solo für einen Versager

Jane Hamilton: Die kurze Geschichte eines Prinzen
Deutsch von Marion Sattler-Charnitzky.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2001, 480 S.

Walter McCloud ist nicht gerade ein Mann, der vom Glück verwöhnt worden ist. Mit Ende Dreißig, im Jahr 1995, hat er es gerade mal bis zum Englischlehrer in einem biederen Provinznest im Staate Illinois gebracht. Und wenn er sein Leben überblickt, empfindet er sich vor allem als Versager. Walter ist ledig, und hier in Otten weiß niemand etwas über seine Vergangenheit. Es wäre auch nicht von Vorteil, wenn seine Schüler erführen, daß er vor Jahren in New York Puppenmöbel verkauft hat, und daß er schwul ist, möchte er in dieser konservativ geprägten Atmosphäre erst recht niemandem offenbaren. So bleibt ihm nur, den Schülern das bißchen Sensibilität, das sie mitbringen, zu erhalten, ihre schlummernden Phantasien und Begabungen zu wecken und gelegentlich mit ihnen ein Theaterstück aufzuführen. Oft, wenn Walter an seiner Existenz zweifelt oder ihn die Einsamkeit plagt, und das ist eigentlich immer, flüchtet er sich in die Vergangenheit, in jene Jahre seines Erwachsenwerdens zwischen 1972 und 1973. Je tiefer er in die Vergangenheit eintaucht, desto mehr spürt er, daß es diese beide Jahre waren, die sein ganzes Leben geprägt haben, und die Gewißheit, damals Liebe und Erfüllung gefunden, aber auch Enttäuschung und Verlust durchlitten zu haben, versöhnt ihn zumindest vorübergehend mit seinem banalen Alltag.

Alles begann im August 1972, als Tante Jeannie und Onkel Ted auf dem gemeinsamen Familienbesitz Lake Margret (Wisconsin) Silberhochzeit feierten. Walters Bruder Daniel konnte nicht mitkommen, da er plötzlich von einer Geschwulst am Hals geplagt wurde. Daß es sich um Krebs handelte, erfuhr Walter erst viel später, und noch später wurde er sich darüber klar, daß der 17jährige im Sterben lag. In diesem Sommer ist für Walter die Welt jedenfalls noch in Ordnung. Mit seinen Freunden Mitch und Susan besucht er die Ballettschule in Chicago, und obwohl Walter in Mitch verliebt ist, akzeptiert er, daß Mitch und Susan ein Paar sind. Erst als sich Susan mehr und mehr für seinen kranken Bruder Daniel interessiert – was in Walter zwiespältige Gefühle wachruft –, schließt er sich enger an Mitch an, und dann passiert gar das für ihn Unvorstellbare: Mitch küßt ihn nach einer durchkifften Nacht, in der sie aus Übermut Farbballons auf dem Garagendach der verschrobenen Nachbarin Mrs. Gamble platzen ließen. Dieser Kuß wird für Walter immer ein Mysterium bleiben, und manchmal glaubt er, ihn nur geträumt zu haben. Alle späteren Sexspiele zwischen den Jungen können die Hochgestimmtheit jener Nacht nicht zurückholen, und als die beiden von Walters Mutter beinahe im Bett ertappt werden, just in dem Augenblick, als sie Walter sagen will, daß Daniel im Sterben liegt, zieht sich Mitch von ihm zurück. In der Ballettschule wird Mitch Zeuge einer Demütigung Walters, ohne ihm beizustehen. Es ist nicht nur das Ende von Walters Karriere als Ballettänzer – ohnehin hatte es nur bis zu einer ihm eher peinlichen Prinzenrolle bei einer hinterwäldlerischen „Nußknacker“-Aufführung gereicht – sondern auch die endgültige Trennung von Mitch. Sie werden nie wieder ein Wort miteinander wechseln. Dafür beginnt Walter, sich endlich für seinen Bruder zu interessieren. Er besucht ihn im Krankenhaus und kommt dort auch wieder Susan näher, die ihm dann zeitlebens eine treue Freundin bleibt. Inzwischen ist sie in Florida mit einem Buchhändler verheiratet und ist als einzige dem Ballett treu geblieben, auch wenn ihr der ganz große Erfolg versagt geblieben ist. Von ihr erfährt Walter, daß Mitch in Kalifornien als Grundstückmakler arbeitet.

Für den Lehrer McCloud sind neben den Erinnerungen vor allem seine jüngere Schwester Lucy und seine Tante Sue Rawson wichtig. Lucy wurde erst nach Daniels Tod geboren, und manchmal möchte Walter ihr etwas von ihrem Bruder erzählen. Dann spürt er wieder, wie viele Fragen für ihn selbst noch offen sind. Und Sue Rawson, die ihn von Kindheit an auf eine spröde Art geliebt hat und die Leidenschaft für Musik und Tanz in ihm weckte, brüskiert die Familie, indem sie verkündet, den Sommersitz Lake Margret verkaufen zu wollen. Für Walter ist es ein unerträglicher Gedanke, daß ihm dieses Haus, das für ihn Rückzugsort und Hort seiner Erinnerungen ist, genommen werden soll. Wochenlang weidet er sich an dem Gedanken, den Rest seines Lebens damit zu verbringen, Lake Margret detailgerecht als Modell nachzubauen. Schließlich hat er ja genug Erfahrungen mit der Einrichtung von Puppenhäusern. Am Schluß kommt es doch nicht zum äußersten, worauf Walter seiner Mutter gegenüber gesteht, was er jetzt zum Glücklichsein noch brauche, sei entweder ein Hund oder ein Freund. Seine Mutter, mit der er bis dahin nie über seine Homosexualität gesprochen hat, antwortet, es sei vielleicht nicht zuviel vom Leben verlangt, sich beides zu wünschen. Es ist das erste Mal, daß Walter mehr an die Zukunft als an die Vergangenheit denkt, und wenn auch nur eine vage Hoffnung besteht, den Gefährten einer einzigen Nacht, Julian, der in New Orleans lebt, wiederzusehen, so erscheint ihm nun der Gedanke, noch einmal einen Pas de deux zu wagen, nicht mehr völlig absurd.

Jane Hamilton (Jahrgang 1958) hat mit Die kurze Geschichte eines Prinzen, ihrem zweiten in Deutschland erschienenen Roman, das Schicksal ihres Helden in die Geschichte einer amerikanischen Durchschnittsfamilie eingebettet und dieses anfänglich verwirrende Knäuel an Beziehungen, emotionalen Abhängigkeiten und Animositäten mit viel Sinn fürs Detail und für große Gefühle zu einem heiter-melancholischen Netz versponnen, daß man sich über ein paar läßliche Längen leicht hinwegfindet.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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