Eine Rezension von Horst Wagner

Plädoyer für Vision und Realitätsnähe

Gregor Gysi: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2001, 384 S.

Bei einer Podiumsdiskussion mit Professor Dieter Klein, Mitautor des neuen PDS-Programmentwurfes, und dem SPD-Bundestagsabgeordneten und Vorstandsmitglied Hermann Scheer bemerkte Letzterer, die Debatte der Linken sei „voll besetzt mit Tabus“. Solche Tabus zu brechen, Streitpunkte zu benennen, aber eine verständnisvolle Streitkultur zu erreichen scheint mir ein Grundanliegen von Gysis neuem, bisher umfangreichstem Buch zu sein, mit dem es erstmals ein PDS-Politiker schaffte, in die geheiligte Bestsellerliste des „SPIEGEL“ vorzudringen. Das große Interesse für Gysis Buch dürfte auch damit zusammenhängen, daß er im vorigen Jahr, für viele unerwartet, als Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion zurücktrat, was manche Spekulationen, aber auch Besorgnis über den weiteren Weg der PDS auslöste. Hinzu kommen wahrscheinlich die Überlegungen, Gysi könnte ein geeigneter Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin sein. Medienaufmerksamkeit hat natürlich ebenso die Tatsache hervorgerufen, daß Gysi sein neues Buch gemeinsam mit Oskar Lafontaine vorstellte, was wiederum Vermutungen auslöste, daß beide (wenn auch auf recht unterschiedliche Weise) Zurückgetretenen zusammen eine neue Linkspartei gründen wollten - Vermutungen, die von Gysi sowohl auf der damaligen Pressekonferenz als auch im Buch zurückgewiesen wurden.

Was für mich Gysis Buch vor allem auszeichnet, ist seine schonungslose Offenheit auch gegenüber der eigenen Partei, gegenüber anderen Personen wie auch zu sich selbst. Eine deutliche Benennung von Positionen verbindet sich mit großem Verständnis für die Motive Andersdenkender; scharfsinnige Analyse ist gepaart mit Sinn für Anekdotisches, streckenweise auch mit Ironie und Humor. Gysis „Blick zurück“ geht bis zum Sonderparteitag vom Dezember 1989, als die PDS aus den reformerischen Kräften in der SED entstand und sich Gysi als neuer Vorsitzender im Namen der Partei beim „Volk der DDR“ entschuldigt hat, „daß die ehemalige Führung der SED unser Land in eine existenzgefährdende Krise geführt hat“. Schwerpunkt seiner Erinnerung liegt aber auf der Zeit seit den Bundestagswahlen vom Oktober 1998, als es der PDS gelang, nicht nur zum dritten Mal in dieses Gremium einzuziehen, sondern auch erstmalig Fraktionsstatus zu erreichen. Wodurch, verbunden mit dem Regierungswechsel von Kohl zu Schröder, viel äußerer Druck von der PDS genommen, das Verhältnis der anderen Parteien zu ihr vernünftiger wurde, was Gysi offenbar als „ein Schritt nach vorn“ sieht. Wobei, und das sieht Gysi mit Besorgnis, mit der Minderung des äußeren Druckes sich der innere verstärkte, d. h. die Auseinandersetzungen innerhalb der PDS, auch die Anfeindungen gegen ihn, zunahmen.

Bei aller Würdigung der Verdienste Gysis in und für die PDS (denkt man an die ersten Jahre nach der Wende, kann man zum Schluß kommen, daß es ohne ihn die PDS wohl gar nicht gäbe) hat man beim Lesen dieser Passagen doch manchmal den Eindruck, daß er die eigene Person überbetont und daß verletzte Eitelkeit beim Entschluß zum Rücktritt vom Fraktionsvorsitz wohl auch eine Rolle gespielt haben dürfte. Auch scheint mir, da Gysi ansonsten bei der Einschätzung von Personen, auch von politischen Gegnern, sehr ausgewogen vorgeht, bei ihm in einigen Fällen, zum Beispiel hinsichtlich Sarah Wagenknechts und Winfried Wolfs, eine unangebrachte persönliche Schärfe Raum zu greifen. Eine Stärkung für die neue Führungsmannschaft dürften dagegen seine Bewertungen der Vorsitzenden Gabi Zimmer, des Fraktionschefs Roland Claus und des Bundesgeschäftsführers Dietmar Bartsch sowie des einstigen Wahlkampfleiters und heutigen Europa-Abgeordneten André Brie sein.

Angeregt offenbar auch von der Diskussion um Gabi Zimmers Bekenntnis zu einem „guten Deutschland“, untersucht Gysi in einem längeren Abschnitt das Verhältnis der Linken zur Nation. Auch wenn man hier hinter bestimmte Aussagen Fragezeichen setzen möchte (Gysi setzt streckenweise Nation und Nationalstaat gleich und meint, die deutsche Nation sei erst mit der Reichseinigung 1871 entstanden), man kann seine Überlegungen zum gemeinsamen Kampf gegen den Rechtsextremismus, auch zusammen „mit den Schönbohms und CDU-Bürgermeistern“, nur unterstützen.

Charakteristisch für Gysis Buch ist die enge Verknüpfung von Gegenwartsanalyse mit historischem Rückblick. Auf die PDS-Geschichte zurückschauend, geht er nochmals auf die Gründe für die Nichtauflösung der Partei Ende 1989 wie auf den Finanzskandal der PDS 1990 ein. Er gibt neue Einblicke in die Auseinandersetzungen über die DDR-Vergangenheit - besonders im Zusammenhang mit der Arbeit der Enquete-Kommission des Bundestages - und nennt plausible Gründe für das Aufkommen einer „DDR-Nostalgie“. Neben positiven Ergebnissen des Einigungsprozesses benennt Gysi vor allem auch die negativen. Letztere untersucht er besonders gründlich am Beispiel der fast vollständigen Abwicklung der ostdeutschen Eliten. Ausführlich schildert Gysi auch, wie er mittels IM-Vorwurf aus dem Bundestag gedrängt werden sollte.

Das wohl ausführlichste Kapitel ist der deutschen Beteiligung am NATO-Kampfeinsatz gegen Jugoslawien und den Beweggründen für Gysis Reise zu Milosevic gewidmet. Werden hier auch die historischen und ethnischen Gründe für die immer wieder aufflammenden Konflikte auf dem Balkan untersucht, so gibt uns Gysi im anschließenden Kapitel „Reisen ins Ausland“ interessante Einblicke in die gegenwärtige Situation in Kuba, Brasilien, Indien, Vietnam, China sowie Süd- und Nordkorea und in die Standpunkte dortiger Parteien. Sicher nicht weniger interessant für viele Leser, was Gysi unter „Unerwünschte Gespräche“ zum Teil anekdotisch über seine Begegnungen mit Richard von Weizsäcker und Johannes Rau, Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Angela Merkel, Joschka Fischer, Oskar Lafontaine und manchen anderen schreibt. Besonders positiv fällt Gysis Urteil - bei aller Betonung der politischen Unterschiede - über Guido Westerwelle und Gerhard Schröder aus.

Gründlich analysiert Gysi die gegenwärtige Situation in der PDS. Als Ursachen für Schwierigkeiten und oft recht unterschiedliche Standpunkte benennt er den Spagat zwischen Volkspartei im Osten und Zwei-Prozent-Partei im Westen, die Unterschiede in der altersmäßigen wie sozialen Zusammensetzung von Mitglieder- und Wählerschaft und nicht zuletzt die zuweilen gegensätzlichen Erfahrungen und Erlebnisse in der DDR wie im Vereinigungsprozeß mit seinen sozialen und mentalen Auswirkungen.

Gibt es im Buch neben Rückblick und Gegenwartsanalyse auch einen Blick nach vorn? Gewitzt aus DDR-Erfahrungen, lehnt Gysi natürlich jeden historischen Determinismus ab und sieht die Geschichte nach vorn offen. Die PDS - so mahnt er seine Genossen - habe „nur eine Chance, wenn sie an ihrer sozialistischen Vision festhält und gleichzeitig eine realitätsnahe Politik betreibt“. Ansonsten ist er ungeknickter Optimist. „Ich will mich einfach auf die erste PDS-Landtagsfraktion in Bayern freuen können“, schreibt er im Epilog. Nichts spreche zwingend dafür, aber auch nichts zwingend dagegen. „Also ist es zu schaffen.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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