Eine Rezension von Bernd Heimberger

Säuseln der Sätze

Julien Green: Tagebücher 1996 — 1998
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Paul List Verlag, München 2000, 448 S.

Auch ein Achtundneunziger kann sterben. Knapp achtundneunzig, starb Julien Green, einen Monat vor dem Geburtstag. Der Schriftsteller hat ein veredeltes – sagen wir geadeltes Leben gelebt, ein geistreich musisches, kunstvoll kulturvolles, kurzum ästhetisches Leben. Julien Green hat seinen Lebensstil zum Julien-Green-Stil gemacht. „Wen erfindet man, wenn nicht sich selbst?“ fragt sich der Noble, als er die ewige Nacht nahen fühlte. Wer mit Green durchs Jahrhundert ging, das jüngst das vorige geworden ist, weiß, daß zwar das Jahrhundert alterte, nicht aber der Autor.

„Ich war fünf, es war gestern“, schrieb der 97jährige in sein Tagebuch, das wir nun als letztes Buch der Endlos-Tagebücher des Schriftstellers lesen können. Ein Aufatmen, daß Schluß ist mit dem sanften Säuseln der Sätze? Daß endlich der Schlußsatz geschrieben und der Schlußpunkt gemacht? Auch das Schöne darf nicht verweilen – Meister Goethe!

Greens Tagebücher des 20. Jahrhunderts sind ein Jahrhundertbuch, in seiner Art mit keinem vergleichbar. Kein Schriftsteller des Jahrhunderts hat so konsequent, so lange Zeit sich und seine Zeit im Jahrhundert im Tagebuch reflektiert. Ob's allerdings die Reflexion des Jahrhunderts ist? „Ich habe die Reise durchs Jahrhundert gemacht“, sagte Green seinem Tagebuch, wie er es schon so oft gesagt hat. Er sagte auch: „Wir verlassen die Erde nur mit dem, was wir gegeben haben.“ Wie meist, wenn der Tagebuchschreiber wir sagte und verallgemeinerte, meinte er sich.

Die wirkliche Welt war für Julien Green nicht die Wirklichkeit der Welt.„Mein Schreibtisch ist die Wirklichkeit“, läßt er uns ein letztes Mal wissen. Von diesen sicheren Posten der Wirklichkeit kommt auch die gesamte Tagebuchpost der Jahre 1996 bis 1998. Wieder berichtet der Schriftsteller, der sich den lebensfrohen Julien Green schreibend erfand, von seinem Gottvertrauen, seiner Lebens-Literatur-Musik-Liebe, seinem seelischen, geistigen, körperlichen Befinden. Das Reisen, das der Jahrhundertreisende so liebte, ist nun nur noch das Reisen im Kopf, weil das reale Alter das reale Reisen verbot? Mitnichten! Das Altern ist dem alten Julien Green nie in den Sinn gekommen. Sein langes Leben war zu kurz, um Zeit fürs Altern zu haben. Wäre der reife Herr nicht gestürzt, ohne sich ernstlich zu verletzen, er hätte wohl keinen Anlaß gehabt, mit dem Alter zu hadern.

Der Sturz, am 25. Mai 1998,war der Augenblick, der Julien Green mit dem Alter bekannt machte und zugleich das Signal fürs Sterben war. Mit der Tragik des Alters mußte er sich nicht - weil er nicht wollte? - auseinandersetzen. Nicht mal im Tagebuch, dessen letzte beschriftete Seite er im Aschenbecher einäschern ließ. Für die Nachwelt ist nunmehr die Notiz vom 1. Juli 1998 der Schlußstein. Die soll ungekürzt hierher. In der Ahnung des Abschieds ist auch die Ankunft formuliert: „Ich muß den Tatsachen ins Gesicht sehen. Ich gehe nicht mehr gut, und ich will mich nicht damit abfinden. Die Beschwerlichkeiten des Alters haben mich mit einem Schlag überfallen. Ich bin stark, aber die Statue steht auf tönernen Füßen. Was mir über die äußere Welt gesagt wird und was zu mir dringt, scheint mir vollkommen uninteressant. Die Ereignisse sind im Innern.“

Vom Schreibtisch verbannt, trennte sich Julien Green sechs Wochen später vom Rest der Welt. Er starb in Schönheit, wie er in Schönheit gelebt hat. Die Welt, die seine Welt war, hat er in Tausenden schönen Sätzen zusammengehalten. Zum Beispiel in dem: „Die Sprache vereinfachen macht das Denken ärmer.“ Treueschwur, Julien, daran werden wir oft denken!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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