Eine Rezension von Volker Strebel

Nur wer sich ändert, bleibt sich treu

Michail S. Gorbatschow: Über mein Land
Aus dem Russischen von Norbert Juraschitz.
C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 2000, 232 S.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der gelernte Mähdrescherfahrer aus dem südrussischen Stawropol, löst weltweit gesehen zwiespältige Gefühle aus. Während er in Europa, in Deutschland zumal, nach wie vor über ein treues Publikum verfügt, lockt er in seiner russischen Heimat keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Kein Wunder, so hört man in Rußland sagen, den Deutschen hat er alles gegeben, aber uns selbst ist nichts geblieben. Und schon befindet man sich inmitten großer Debatten, und es bleibt tatsächlich zu hinterfragen, was den Russen seit Michail Gorbatschows Machtantritt an Neuem, an Besserem geboten wurde und was nicht. Oft sind die lautesten Kritiker von Gorbatschows Konzeption der Perestroika (Umbau) und der Glasnost (Offenheit) jene, von welchen in Zeiten der Gefahren nichts zu hören war. Mancher Politstratege in den berühmten Moskauer Küchen funktionierte in den erstarrten Jahrzehnten vor Gorbatschow nur mit geballter Faust – in der Manteltasche.

Dann gibt es in Rußland auch Gorbatschow-Skeptiker mit wachem Blick auf die Dinge. Selbstverständlich hat er zum ersten Male in der Geschichte der Sowjetunion Freiheiten verwirklicht, aber weniger aus freien Stücken denn aus Einsicht in den unbarmherzigen Gang der Dinge. Gorbatschows Machtinstinkt zwang ihn an die Spitze einer Reformdynamik, die zwar von ihm ausgelöst, aber in diesem Umfang nicht beabsichtigt war. Die westliche Gorbi-Manie bleibt diesen nüchternen Beobachtern fremd. Diese Einwürfe mögen gerechtfertigt sein, ändern aber nichts an ihrem spekulativen Charakter. In der Geschichte aber zählen reine Fakten, und die von Gorbatschow zu verantwortenden können sich sehen lassen.

Die Regierungszeit von Michail Sergejewitsch Gorbatschow kann beachtliche, ja revolutionäre realpolitische Ergebnisse vorweisen. Tragische, blutige Rückschläge wie in Georgien und im Baltikum wiegen schwer, zumal Gorbatschow hierfür nur bedingt geradestehen möchte. Dabei hatte er zu jener Zeit den Vorsitz des Verteidigungsrates inne, war also der Oberkommandierende. Derlei Widersprüche verbreiteten in der Sowjetunion in stärkerer Weise, als Gorbatschow annimmt, Mißtrauen und Separationsgedanken. Den Zerfall der alten Sowjetunion allein auf Intrigen von Politikern wie Boris Jelzin und andere zurückzuführen greift zu kurz, so aufschlußreich auch Gorbatschows Aufschlüsse über die politischen Hintergründe im vorliegenden Buch sind.

Für Europa hatte dagegen die „Perestroika“ eine entschlossene Weitsicht bewiesen. Der unrühmliche Schatten des russischen Militärstiefels über Mitteleuropa wurde genommen. Von den baltischen Staaten bis über Polen, die ehemalige Tschechoslowakei und Ungarn wurden die Truppen der Roten Armee abgezogen. Die ehemalige DDR ging in die neue Bundesrepublik Deutschland ein. Sogar die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland war schließlich, gegen anfängliche Widerstände, akzeptiert worden. Gorbatschows Realismus in der Außenpolitik war aufgegangen, ohne daß sich dies in adäquater Weise auf sein eigenes Land bezogen hatte. Eine verhängnisvolle Tragik!

In einer bilanzierenden Rückschau reflektiert Gorbatschow die Schrecken des Stalinismus in der Sowjetunion, um Antworten für die Gegenwart zu erhalten und Irrwege für die Zukunft zu vermeiden. Auf die selbstgestellte Frage, ob der Sozialismus eine Zukunft hat, verweist Gorbatschow darauf, daß der „real existierende Sozialismus“ kein Sozialismus gewesen sei. Er zeigt sich irritiert, daß der bürgerliche Liberalismus sozialistische Werte ablehnt. Eigentlich eine alte Diskussion: Bereits Ende der 70er Jahre glaubte das Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Italiens, Prof. Lucio Lombardo-Radice, „daß die Revolutionäre heute einen solchen guten alten Liberalismus wieder herzustellen haben“. Und aus Moskau appellierte damals der geächtete Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharov auch an die Vertreter der kommunistischen Parteien Europas, sich für die Menschenrechte in den sozialistischen Ländern einzusetzen. Heute geht es Michail Gorbatschow um eine „Metaideologie“. Für „eine neue konzeptionelle Vision der Zukunft“ skizziert er den Weg eines „globalen Humanismus“.

Gorbatschows Anliegen einer demokratisierten Sowjetunion als gleichberechtigter Teil in der Völkerfamilie, vor dem niemand mehr Angst haben muß, war nicht verwirklicht worden. Dennoch widerlegt der Fortgang der Geschichte in keinster Weise, über Gorbatschows Anstöße nachzudenken. Im Gegenteil!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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