Eine Rezension von Bernd Heimberger

Gestörte Gesellschaft

Erich Fromm: Gesamtausgabe.
Hrsg. Rainer Funk.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999/Deutscher Taschenbuch Verlag,
München 1999, 12 Bände, Geb. in Kassette

Manchem, der gestern noch gern seinen Marx oder Lenin zitierte, kommt heute leicht ein Fromm-Zitat über die Lippen. Die neuen Vor-Bilder leben. Und sie leben noch! Was heißt neu? Was bedeutet Vor-Bild heute? Wer ist Erich Fromm, der sich so vorbildlich fürs Zitieren eignet und der sich zum Vorbild wahrlich nicht berufen fühlte? Fromm, Erich, fand in der DDR nicht statt. Nicht in der offiziellen, öffentlichen DDR. – Bei Christa Wolf, damals – vor Jahrzehnten – noch am Rande der Hauptstadt zu Hause, lag eine Taschenbuchausgabe von „Haben und Sein“ auf dem Tisch. Das war ein Tip. Das war eine, meine erste, indirekte Begegnung mit Fromm. Die wurde direkter, als eine stets couragierte Kollegin des Bayrischen Rundfunks zwei Fromm-Bände via Bahnhof Friedrichstraße ins fromm-freie Gelände schmuggelte. Im Nu machten die Taschenbücher mit dem giftgrünen Titeleinband die Runde, bis sie von einem namhaften Autor des kleinen Landes unter Verschluß genommen wurden. Das heißt, der vergaß zurückzugeben, was er geliehen bekommen hatte. Ein Triumph für Fromm. Der blieb in der DDR Konterbande. Auch, als über Umwege, sprich die „Österreichische Bibliothek“, der Fromm-Vorgänger Freud ins Land gelassen wurde und Friedrich Nietzsches Chancen nicht schlecht standen, aus der Verbannung entlassen zu werden.

Wer Freud sagt, muß auch Fromm sagen. Er hat das Alphabet der Psychoanalyse fortgeschrieben. Hätte die DDR früher Freud gesagt, hätte sie früher oder später auch Fromm gesagt. Nicht nur, weil man darauf gekommen wäre, daß der eigenständige Psycho-Analytiker Erich Fromm kein blinder Nachbeter des Sigmund Freud war. Ein Blick in die Register der nun um zwei auf zwölf Bände erweiterten Gesamtausgabe der Schriften Freuds genügt, um zu wissen, wo der Frei-Denker Fromm am liebsten seinen Nektar saugt. Die Bibel, Freud und Marx waren Fromms zuverlässigste Lieferanten. Auch Lenin war ein Pfund, mit dem er wucherte. Hatten die theologischen Eiferer des Wissenschaftlichen Sozialismus das übersehen? Hatten sie nicht. Was sie sahen, jagte den Orthodoxen einen Schrecken ein. Erich Fromm war Pfahl im Fleische. Die Freudianer begegneten dem Freud-Kritiker mit heftigen Disputen. Die selbsternannten Marxisten haben Fromm vermieden. Der Denker Erich Fromm schärfte seinen Verstand im permanenten Widerstand gegen den simplifizierten und entstellten Freud wie gegen den simplifizierten und entstellten Marx. Kein Protagonist der Freud-Partei, war Fromm auch kein Marx-Avantgardist. Er war kein polemischer Populist, der sich Freud und Marx tagesgerecht verfügbar machte, um sich so den Zuspruch der Zeitgenossen zu sichern, wie das um Achtundsechzig der Philosoph Herbert Marcuse tat. Erich Fromm war kein Blender. Ohne Klage trug er lebenslang auch die Bürde, ein entschiedener Kritiker zu sein. Er war ein konstruktiver Kritiker. Von Freud und Marx. Um eigene Popularität hat er sich wenig gekümmert. Die Kontinuität der Wissenschaft war seine Sache. Keinem Diktat einer Idee unterlegen, konnte der Souverän Fromm auch nicht als Dogmatiker straucheln. Das macht den zum Beispiel, der kein Beispiel sein wollte, der seine Schüler in ihrer Unabhängigkeit anstachelte und keine Schule begründen wollte.

Erich Fromm hat die ernsthafteste Frage aller Fragen gestellt: Leben wir wirklich Leben? Er spürte, daß in der Freudschen wie Marxschen Schule dem Menschen zuviel Leben gelebt wird. Das wahrgenommene Totsein, Totgemachtwerden im Leben hat den Psychoanalytiker erschreckt und aufgebracht. Wenn es ein Lebensmotto für Erich Fromm gegeben hat, dann das: Dem Mißbrauch des Menschen durch den Menschen widerstehen! Dem Motto gemäß dachte, redete, schrieb er. Mehr und mehr erkennt das die Nachwelt. Seit dem Tode Fromms im Jahre 1980 sind seine Chancen gewachsen, in der Welt, von der Welt, besser verstanden zu werden. Der Psychoanalytiker steht nicht wie ein blockierendes Massiv vor den Menschen. Wenn schon Massiv, dann ist Fromm eines, das einlädt zum Erklimmen. Als Probe aufs Exempel eignet sich die große, großformatige Erich-Fromm-Gesamtausgabe des Deutschen Taschenbuch Verlages. Was für eine Ausgabe! Kritische Studienausgabe klingt korrekt, doch abschreckend. Also ist besser von einer akribischen Werkausgabe zu sprechen. Für ihre Grundausstattung und Entwicklung ist seit zwei Jahrzehnten der Fromm-Assistent und Nachlaßverwalter Rainer Funk verantwortlich. Das zunehmende Vertrauen in Fromm hat mit dem verläßlichen Werkbetreuer zu tun. Funk läßt das Fromm-Wort als Wort Fromms gelten. Was könnte wichtiger, wertvoller, wirkungsvoller sein, um einem Lebenswerk gerecht zu werden? Der Herausgeber, der dem neuen, elften Band den Titel „Politische Psychoanalyse“ verpaßte, formulierte nicht nur sein persönliches Verständnis des Fromm-Werks. Der Titel bewertet und bezeichnet die besondere, einzigartige wissenschaftliche Lebensleistung Fromms. Der kommt von Freud her und ist nicht bei Freud stehengeblieben. Der hat auf Marx zurückgeschaut und hat über Marx hinausgesehen. Die Misere, in die der Marxismus getrieben wurde, hat er nicht schadenfroh mit angesehen. Er hat den Mißbrauch des Marxismus Mißbrauch genannt. Für Fromm gab’s keinen Grund, Marx und sein Denken zu verketzern. Die Kalamität des diskreditierten Kommunismus erkennend, konnte der gesellschaftsanalytische Psychologe, Soziologe und Philosoph bleiben, was er war: Sozialist! Der in Frankfurt am Main geborene, exilierte, deutsch-, englisch-, spanischsprachige Jude Erich Fromm hat die Welt als erklärter Sozialist verlassen. Freud und Marx achtete er, wie er sie zu beachten verstand wie nur wenige. Das heißt, Fromm war bereit, durch Verständigungen zu verstehen. Fromm gewann sich, was er gewinnen konnte. Von Freud mehr als von Marx. Nehmend hat der Wissenschaftler gegeben, wozu Freud und Marx nicht in der Lage waren.

Fromm hat den Menschen nicht nur als Täter seiner Triebe gesehen. Er hat den Menschen nicht nur als Gefangenen der Gesellschaft betrachtet. Sinn und Blick für die biologischen Faktoren der Psychoanalyse beeinträchtigen nicht Fromms Sinn und Blick für die gesellschaftlichen Faktoren. Individualpsychologie ohne Gesellschaftspsychologie, sprich Sozialpsychologie, wäre ihm so mangelhaft vorgekommen wie die einseitige Hervorhebung der Freudschen Individualanalyse und Marxschen Gesellschaftsanalyse. Mit immer strikter werdender Konsequenz hat Erich Fromm seine konkrete politisch-sozial-gesellschaftliche Psychoanalyse entwickelt. „Mein Ansatz“, sagte er 1969 (!) „war immer sozio-biologisch.“ Das war nicht gerade die Tendenz der Tage. Für die Achtundsechziger war Fromm keine Figur, die sie auf ihr Schild hoben. Zu wenig entsprach so ein Satz dem allgemeinen, öffentlichen Denken der Zeit: „Die Entwicklung der Persönlichkeit wird als der Versuch des Menschen verstanden, mit Hilfe seiner dynamischen Anpassung an die gesellschaftliche Struktur, in die er geboren wird, zu überleben.“ Das zu äußern konnte nur einer riskieren, der keine Theorie, keine Idee, kein Konzept in einen Heiligenschrein gestellt hatte und sich keinem Tagestempo anpaßte. Unmißverständlich hatte Fromm in seinem Hauptwerk „Haben und Sein“ notiert: „Unser Weltbild entspricht nur in dem Maße der Wirklichkeit, wie unsere Lebenspraxis frei von Widersprüchen und Irrationalität ist.“ Wie Fromm, der sich derart deutlich artikulierte, verdächtig werden konnte, g e g e n die Gesellschaft zu sein, ist unklar. Klar ist, indem sich der verantwortungsbewußte Fromm f ü r den Menschen einsetzte, konnte er nicht g e g e n die Gesellschaft der Menschen sein. Das forderte, sich gegen alles zu wappnen, was „unsere Lebenspraxis“ mit Widerspruch und Irrationalität versieht. Im Band XI, der die Schriften aus dem Nachlaß vereint, gibt’s den 1971 verfaßten, sechsseitigen Essay „Überfluß und Überdruß in unserer Gesellschaft“. Jedes Kapitel ist ein weiterer Beitrag zu den Tatsachen, die aus der Gesellschaft eine gestörte Gesellschaft machen, deren Analyse die Lebensaufgabe des deutsch-jüdischen Psychoanalytikers und Soziologen Erich Fromm war. Beginnt der Analytiker Teil 6 mit den Worten „In der Moralkrise, die wir gegenwärtig durchlaufen“, kann sich niemand des Gefühls erwehren, das sei nicht in dieser Stunde gesagt. Der Abstand zur Niederschrift offenbart eine Wahrheit: Die Moralkrise ist eine Dauerkrise! Sie speist sich aus dem schon von Marx diagnostizierten Irrtum, „daß sich unsere Kultur nun einmal durch Konsum beweist“, wie Fromm formulierte. Dieser Irrtum produziert täglich neu Widerspruch und Irrationalität. Der „überflüssige Überfluß“ ist zum Maß aller Maßstäbe des Lebens geworden. Solange die Menschheit dem Moloch Überfluß Opfer auf Opfer bringt, strebt sie auf die Zerstörung der Zukunft zu. Das bedeutet, ärmer als die Armen der Welt zu werden. So sah Marx das. So, fürchtete Erich Fromm, könnte es wirklich kommen. Die Menschheit riskiert Kopf und Kragen, wenn sie sich nicht um Kopf und Kragen kümmert, das heißt um die Sozialisierung sämtlicher menschlicher Beziehungen.

Erich Fromm, einer der herausragenden Köpfe des 20. Jahrhunderts, hat seine Sprache sozialisiert. Er hat für Direktheit und Deutlichkeit in seinen Äußerungen gesorgt. Mit sprachlicher Klarheit hat er seine Gedanken von der Sozialisierung der Gesellschaft vielen verständlich gemacht. Wichtiger als die Gestaltung der Sprache war ihm die Darstellung der Gedanken in einer Sprache, die keine Mißverständnisse zuläßt. Erich Fromm wußte, daß nichts so schnell für so viele Mißverständnisse verantwortlich ist wie die mißverständliche Sprache. Er wußte, daß jedes Neu-, Über-, Weiterdenken nur möglich machen kann, wer alle vorausgegangenen Denker nicht geringschätzig abtut. Denkern danken heißt beachten, respektieren, kritisieren. Durch sein Denken hat der Denker Erich Fromm die Psychoanalyse um Wesentliches weitergebracht. Fromms Kritik an Freud hat Freud gefördert. Fromms Marxismuskritik macht Mut, den Philosophen Marx nicht gänzlich außer acht zu lassen. Sicher ist es im Sinne Erich Fromms, wenn die Fromm-Zitierer nicht versäumen, die Bibel, Freud und Marx zu zitieren. Das ist der Fort-Schritt, der mit den Schriften Erich Fromms im Gedächtnis getan werden kann. Es muß ja nicht von einem Jahrhundertschritt gesprochen werden. Von einem Schritt aus dem 20. ins 21. Jahrhundert könnte gesprochen werden. Was, immerhin, auch kein kleiner oder kleinlicher Schritt wäre!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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