Eine Rezension von Volker Strebel

Erfassen, interpretieren, aber nicht bemächtigen

Semon L. Frank: Das Unergründliche
Ontologische Einführung in die Philosophie der Religion.
Aus dem Russischen übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Alexander Haardt.
Verlag Karl Alber, Freiburg i. Breisgau 1995, 484 S.

Seit dem politischen Ende der Sowjetunion befindet sich Rußland in einem Prozeß, der bereits während Michail Gorbatschows „Glasnost“–Ära in Gang gekommen war: die Wiederentdeckung der eigenen Wurzeln. In den Jahrzehnten der bolschewistischen Diktatur waren ganze Teile eines hervorragenden Spektrums russischer Kultur bewußt unterdrückt und ausgeblendet worden: Die Religionsphilosophie war einer der beeindruckendsten dieser Bereiche. Namen wie Nikolaj Berdjajew, Pavel Florenskij oder Nikolaj Losski stehen dafür ein.

Der Philosophiehistoriker Vassilij Ženkowskij bemerkte einmal, daß man ohne Zweifel Semon Ludevič Frank als den bedeutendsten russischen Philosophen überhaupt bezeichnen kann. Mit etlichen anderen russischen Philosophen der 10er und 20er Jahre hat Frank gemein, daß sie tatsächlich zunächst als Marxisten in der akademischen Welt aufgetreten waren und sich dann denkerisch davon wieder getrennt hatten – wohlgemerkt vor der Oktoberrevolution! Frank, in einer Moskauer Intellektuellenfamilie aufgewachsen, war von der Religiosität seines rabbinischen Großvaters geprägt. Mit 37 Jahren konvertierte Frank zur russischen Orthodoxie. Semon Frank gehörte zu jener Gruppe von Intellektuellen, die im nachrevolutionären Rußland auf Geheiß des Volkskommissariats für Bildung 1922 in den Westen abgeschoben wurden. Semon Frank versuchte, in der Berliner russischen Kolonie Fuß zu fassen und unterrichtete am dortigen slawischen Seminar. Auch das vorliegende Buch war in Berlin verfaßt worden – ursprünglich in deutscher Sprache, mit welcher Frank nicht zuletzt wegen seiner deutschsprachigen Großmutter sehr vertraut war. Die Machtübernahme durch die Nazis verhinderte jedoch die Veröffentlichung in Deutschland. Als „nichtarischer Christ“ bekam Frank zunehmend Schwierigkeiten und mußte Anfang 1938 nach Frankreich emigrieren. In Paris erschien dann 1939 eine russische Übersetzung des Unergründlichen. Doch die braune Diktatur holte Frank wieder ein. „Zwei Revolutionen in einem Leben sind zuviel“, so hatte sich Semon Frank seinem guten Freund Ludwig Binswanger gegenüber ausgedrückt. Den Zweiten Weltkrieg überstand Frank mit seiner Frau mehr schlecht als recht im besetzten Frankreich, und 1945 übersiedelte Frank zu seinen Kindern nach London, wo er 1950 starb.

Sein Hauptwerk Das Unergründliche, eigentlich auch „Das nicht Faßbare“, stellt das bemerkenswerte Unternehmen einer ontologischen Einführung in die Philosophie der Religion dar. Frank machte keinen Hehl daraus, daß er sich dabei ganz in der Tradition seines „einzigen Lehrers“ Nikolaus von Kues befand, ja er bestätigte, daß philosophisches Nachdenken immer wieder von neuem bereits angedachte Wege neu gehen würde. Im Fall Cusanus–Frank betraf es den Versuch, das Nichtzudenkende in einer intellektuell redlichen Form dennoch zu rekonstruieren. Durch das Nicht-Berühren würde das Nichtberührte dennoch berührt – als einzige Möglichkeit einer Form von Annäherung. Bereits in der Umschreibung dessen, was nicht beschreibbar bleibt, wird dessen Ahnung hervorgerufen und damit der Versuch gerechtfertigt, die Grenzen der Vernunft auf rationale Weise auszuloten. Das Unergründliche bezeichnet einen Raum der Unverfügbarkeit: „Jedes Ding und jedes Wesen in der Welt ist mehr und anderes als alles, was wir von ihm wissen und wofür wir es halten – und mehr noch: Es ist mehr und anderes als alles, was wir jemals von ihm erfahren können. Und was es eigentlich in all seiner Fülle und Tiefe ist, das bleibt es für uns unfaßbar.“

Der Alber-Verlag hat in seinem philosophischen Programm die Reihe „Orbis Phaenomenologicus“ eingerichtet, in der bereits ein weiteres wichtiges Buch eines russischen Denkers, „Die Hermeneutik und ihre Probleme“ von Gustav Špet, erschienen ist. Den vorliegenden Band von Semon L. Frank hat mit Alexander Haardt ein ausgewiesener Kenner der russischen Philosophie dieses Jahrhunderts herausgegeben, übersetzt und mit einem informativen Vorwort versehen. Der deutsche Leser vermag nunmehr, unterbrochen von über einem halben Jahrhundert roter und brauner Diktaturen, die Fäden dieser russischen Stimmen aufzugreifen und weiterzuknüpfen. Die Bezüge auf den Sinn unseres Daseins erweisen sich als unerwartet aktuell. Das Unergründliche ist zeitlos!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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