Eine Rezension von Volker Strebel

Ost-Linke, West-Linke

Annette Simon/Jan Faktor: Fremd im eigenen Land?
Psychosozial-Verlag, Gießen 2000, 145 S.

An jenem legendären Herbstauftritt 1976 in Köln hatte der Liedermacher Wolf Biermann nicht nur kluge und weniger kluge Dinge über seine Beziehung zur DDR vorgetragen, er hatte von einem „makabren Wettstreit“ der Ost-Linken mit den West-Linken berichtet, der oft genug in seiner Ostberliner Wohnung ausgetragen wurde. Allein Hölderlins Zerrissenheit hatte sie geeinigt. Diesem November-Konzert folgte Biermanns Ausbürgerung aus der DDR, und das Datum markiert aus heutiger Sicht den Anfang vom Ende der DDR.

Jan Faktor, der aus Prag kommend seit 1978 in Ost-Berlin lebt, und Annette Simon nehmen in diesem aufschlußreichen Bändchen Anlauf, in gewisser Weise jene Lücke zu füllen, die sich zwischen Wolf Biermanns Ausbürgerung und dem Ende der DDR auftut. In elf selbstverfaßten Beiträgen schildern sie aus verschiedener Perspektive diese letzten Jahre des „real existierenden Sozialismus“. Und wenn im Prozeß des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten immer wieder die Rede davon ist, daß die alte Bundesrepublik sich zuwenig mit dem Leben der Menschen in der DDR beschäftigt hat, böte sich hier ein guter Einstieg in die Psychologie junger ehemaliger Kinder und Jugendlicher der DDR. Eine besondere Note in diesem deutsch-deutschen Spiegel kommt durch Jan Faktor zustande, dem sich diese Sicht immer auch durch seine Erfahrungen und Erlebnisse in der „normalisierten“ ČSSR der 70er und 80er Jahre unter Gustav Husák ergänzt. Ein gesundes Gegengift zur deutschen Nabelschau! Äußerst kritisch geht Jan Faktor mit der PDS-nahen Autorin Daniela Dahn ins Gericht, die sich zynisch über die Toten an der Mauer geäußert hat. Es seien nur 0,06 Prozent derer, „die aktiv geworden sind, um das Land zu verlassen“. Der entsetzte Jan Faktor hebt das Wörtchen „nur“ hervor. Dabei ließe sich Daniela Dahns Opferzahl 248 verdreifachen. Dahn hatte sich erfolglos um den Richterposten beim Brandenburger Verfassungsgericht beworben!

Jan Faktors Name war in den letzten Jahren der real existierenden DDR immer wieder im Zusammenhang mit der unbotmäßigen Künstlerszene im Ostberliner Prenzlauer Berg aufgetaucht. Er legt Wert darauf, als lebender Beleg dafür zu gelten, daß nicht jede dieser Figuren ein in das Leben gesetzter Automat der Stasi war. Ehrlicherweise geht der Schriftsteller Jan Faktor aber auch mit sich selbst kritisch ins Gericht, wenn er bedauert: „Ich hätte mich auch sonst in meinem Leben mehr trauen, noch viel radikaler leben sollen. Einiges habe ich leider versäumt.“

Dabei trägt Jan Faktor durchaus Neuigkeiten vor. Die unterschiedlichen Ausrichtungen im Underground, das deutlich brutalere Vorgehen der tschechischen Polizei gegen Langhaarige und Aussteiger. Die legendäre Bürgerrechtsbewegung CHARTA 77 hatte sich letztlich aus Anlaß der Verhaftung der Rockmusiker „Plastic People of the Universe“, denen Faktor einen aufschlußreichen Beitrag widmet, gebildet. Jan Faktors Mutter war eine engagierte Prager Journalistin, und so hatte er in seiner Kindheit die wichtigsten Schriftsteller und Publizisten aus dem Reformmilieu auch persönlich kennengelernt: Jiří Gruša, Eduard Goldstücker, Ludvík Vaculík und andere. Das prägende Erlebnis des „Prager Frühlings“ von 1968 hatte ihm eine Anpassung an die „normalisierte“ Tschechoslowakei unmöglich gemacht. Einem inneren Exil in die slowakischen Berge war 1978 ein Wechsel nach Ostberlin gefolgt, der allerdings rein persönlicher Natur war. Jan Faktor hatte die Psychotherapeutin Annette Simon geheiratet.

Annette Simons politische Reifung war ebenfalls von der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Reformkommunismus unter Alexander Dubček beeinflußt worden. Sie schildert eindrucksvoll subtile Hintergründe in der DDR-Sozialisation: „Die in der DDR in die Macht eingesetzte Generation war zum Teil erwiesenermaßen antifaschistisch oder reklamierte dies zumindest für sich. Die Auseinandersetzung mit ihr oder der Angriff auf sie war daher von vornherein gebrochen und durch tiefe Loyalität und Achtung beschwichtigt, zudem meist noch von dem Bewußtsein getragen, dieselbe Sache zu wollen – den Sozialismus.“

Man muß nicht mit jeder Überlegung von Annette Simon einverstanden sein, um erkennen zu können, daß hier eine kritische originäre Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und Denken in der DDR stattfindet. Die sterile Formel „Vergangenheitsbewältigung“ nimmt in diesen Analysen konkrete Gestalt an.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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