Eine Rezension von Friedrich Schimmel

„Man sollte so leben, als gebe es keinen Tod“

Richard Ellmann: Oscar Wilde
Aus dem Amerikanischen von Hans Wolf.
Piper Verlag, München 2000, 868 S.

Oscar Wilde, dessen Lebensgeschichte von Richard Ellmann hier ausführlich erzählt wird, war ein brillanter Essayist, ein wunderbarer Märchenerzähler und Verfasser eines bis in die Gegenwart erfolgreichen Romans - Das Bildnis des Dorian Gray. 1890 zuerst erschienen, lebt dieser Roman fort und wird von jeder nachwachsenden Generation neu entdeckt, gelesen, gelobt, verehrt. Der zwanzigjährige Wilde wußte, was er wollte: „Und wenn schon nicht berühmt, dann zumindest berüchtigt.“ Berühmt und berüchtigt wurde er, wie die Nachwelt heute weiß. Minutiös beschreibt sein 1987 verstorbener Biograph, der Amerikaner Richard Ellmann, den rasanten Aufstieg des Dichters. In London wird er von der „feinen“ Gesellschaft hofiert, nachdem er schon während seiner Studentenzeit in Oxford die „Ästhetische Bewegung“ kreiert hatte, deren Programm er selbst war. Er versteht es, unwiderstehlich, scharfzüngig und charmant sein Selbst in allen Lebenslagen hervorzukehren. Er wird in Amerika und in Paris gefeiert, von den Frauen heiß verehrt, er entwickelt einen einmaligen Typ als Dandy und wird sowohl mit der Rolle des Selbstdarstellers als auch mit der des Dichters berühmt. Die Unbedingtheit des Ästhetischen im Dasein wird reichlich ausgespielt. Seine Homosexualität wird öffentlich ausgelebt, seine Ehe hält nicht lange, dann stürzt er sich von Affäre zu Affäre. Richard Ellmann hat das alles mit Akribie beschrieben. „Nicht mehr mit Worten nur forderte er die viktorianische Gesellschaft heraus“, schreibt der Biograph, „fortan hielt er sie auch mit Taten in Bann.“ Eine „Tat“ allerdings machte auch ihm selbst schwer zu schaffen. Der Vater seines Liebhabers hatte Wilde einen Verführer schöner Jünglinge genannt und damit die reine Wahrheit gesagt. Doch Oscar Wilde beging den größten Fehler seines Lebens, er besaß die Unvorsichtigkeit, Lord Alfred Douglas wegen Verleumdung anzuklagen. Richard Ellmann zitiert ausführlich aus den Prozeßakten. Der Marquess of Queensberry wird freigesprochen und führt danach zwei Prozesse gegen Wilde, die mit Schuldspruch, Gefängnis und Zwangsarbeit für den Dichter enden. Ende Mai 1895 überschlugen sich die Zeitungen in London mit diesen aufregenden Meldungen. Richard Ellmann schreibt: „Wilde war nicht nur das Opfer von Queensberry-Vater und -Sohn, er war in gewisser Hinsicht auch das Opfer seines eigenen Denkens und Fühlens.“ Und die „Rolle des Opfers war nur eine der diversen Rollen, in denen er sich wiedererkennen konnte“. Das alles liest sich wie eine spannende Kriminalgeschichte. Ellmann hält sich streng an die Fakten, ordnet, zitiert, wertet sehr behutsam. Allen Kapiteln stellt er Zitate von Oscar Wilde voran, die dem geschilderten Geschehen eine zusätzliche Nuance geben. Nach dem Gerichtsurteil klingt das so: „Die Öffentlichkeit ist erstaunlich tolerant. Sie verzeiht alles - außer Genie.“

Zwei Jahre Haft lautet das Urteil. Das Gefängnis in Reading war „nicht gleichbedeutend mit dem Inferno“, schreibt Richard Ellmann, und er listet die Bücherwünsche Wildes während der Haftzeit auf, darunter neben englischer Poesie Goethes „Faust“ im Original, eine Deutsche Grammatik, auch Rankes Römische Päpste. Wilde bewegt sich „von der Entdeckung des Schmerzes zur Entdeckung des Trostes“. Schreibt weiter, wird auch unter den Wärtern bekannt, die ihm komische Fragen zur Literatur stellen. Danach ist er wie ausgehöhlt: „Wildes Energie reichte immer nur gerade dazu hin, den Tag zu überstehen - oder vielmehr die Nacht, denn er kam, wie bereits seine Mutter, erst nachmittags aus den Federn.“

In Paris fängt er sich wieder, und es verläuft sein Leben „nun fast wieder im alten Rhythmus“. Exkursionen, Begegnungen, aber auch „Momente, wo er nicht wußte, wohin“. Ziemlich mittellos, setzt er sich den unvermeidlichen Peinlichkeiten der Bittstellerei aus. In den letzten dreieinhalb Jahren, die ihm nach der Haftentlassung noch bleiben, sieht er eine Unzahl von Menschen, oft wie in einer Pantomime, an sich vorüberziehen - Menschen, die er von früher her kannte und die ihm nun aus dem Weg gehen. Einmal in seinem aufwendig gelebten Leben hatte Wilde geschrieben: „Man sollte so leben, als gebe es keinen Tod“, aber der Aphoristiker konnte angesichts des bevorstehenden Todes auch sagen: „Man sollte sterben, als habe man gar nicht gelebt.“

Richard Ellmanns Biographie ist ein Prosawerk für sich. Große Zusammenhänge und winzige Details sind darin ganz wunderbar miteinander verwoben. Nur in einem hatte er sich geirrt. Im Kapitel „Das Ende“ meint Richard Ellmann, es „spricht nahezu alles dafür, daß die Syphilis Wildes tödlicher Krankheit den Boden bereitet hatte“. Das, die Öffentlichkeit weiß es seit November letzten Jahres, stimmt nun nicht. Zum hundertsten Geburtstag des Dichters gab die Studie zweier südafrikanischer Ärzte dem Enkel Wildes recht, der schon lange beharrlich behauptet hatte, sein Großvater sei keineswegs an den Folgen der Syphilis gestorben, die er sich als Student in Oxford geholt haben soll. Todesursache war eine chronische Mittelohrentzündung, die zu einer Gehirnhautentzündung führte. So schreibt auch die Medizin nachträglich die Literaturgeschichte an gewissen Punkten um. An der Größe des Dichters Oscar Wilde und an der Qualität dieser Biographie gibt es aber deshalb nichts auszusetzen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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