Eine Rezension von Gerhard Keiderling

Bemerkenswerte Anmerkungen zu Honecker

Henrik Eberle: Anmerkungen zu Honecker
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2000, 315 S.

Eine neue Honecker-Biographie? Eine andere! Henrik Eberle, Historiker und Journalist, nennt sein Buch bescheiden „Anmerkungen“, doch es ist eine in sich geschlossene, sachkundige Lebensdarstellung des „Genossen E.H.“. Auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint die Herangehensweise des Autors. Den Lebensweg des einstigen Jugend- und Parteifunktionärs, Generalsekretärs und Staatsratsvorsitzenden untergliedert er in „Aufstieg - Oben - Absturz“, was die Typik der Karriere eines kommunistischen Berufsrevolutionärs unterstreicht. Im Abschnitt „Honecker persönlich“ dominieren Charakterliches und Familiäres, meist anekdotisch. Unter „Herrschaftstechnik“ wird nicht nur der Führungs- und Regierungsstil Honeckers unter die Lupe genommen, sondern auch das machtpolitische Umfeld betrachtet, in dem „E.H.“ aufstieg und abstürzte, also die Ideologie, der Parteiapparat, in dem Personenkult und Korruption herrschten, und der Mechanismus der „Diktatur des Proletariats“. Schließlich wird unter „Vermischtes“ alles subsummiert, was der Verfasser noch für erwähnenswert hält. Man liest, mit welchen Rivalen (Schirdewan, Apel, Naumann, Stoph und Modrow) Honecker es zu tun hatte, wie er die deutsch-deutschen Beziehungen, die Sport- und Friedenspolitik selbst managte und viel zu spät nach einem Nachfolger Ausschau hielt. Dieser Aufbau des Buches kommt auch jenen Lesern entgegen, die sich en detail informieren möchten.

Hervorhebenswert ist der sachliche Duktus des Buches. Der Autor vermeidet den Zeigefinger ebenso wie voreilige Verdikte, er läßt Fakten sprechen. Erich Honecker, einer saarländischen Bergarbeiterfamilie entstammend, wurde durch die Wechselfälle der Geschichte zur „Nummer 1“ der DDR. Viel brachte er nicht mit, trotz Absolvierung der Parteihochschule der KPdSU in Moskau, um den von Stalin gewollten und von Ulbricht geprägten Arbeiter-und-Bauern-Staat in den „vollendeten Sozialismus“ zu führen. Eigentlich hat er sich mit Hilfe des damaligen Kremlchefs Breschnew 1971 durch eine Palastrevolte an die Spitze des Staates gebracht. „Oben“ angekommen, stabilisierte er seine Herrschaft dank der ihm von früher verbundenen FDJ-Kader (wie Paul Verner, Hermann Axen, Oskar Fischer, Konrad Naumann u. a.). Der VIII. Parteitag der SED von 1971 deutete einen Aufbruch an, doch schon Mitte der 70er Jahre schlief die innenpolitische Erneuerung sanft ein. Der SED-Generalsekretär, inzwischen auch Staatsratsvorsitzender, ließ den Stillstand zu. Während er die inneren Geschicke der Republik unbefähigten Apparatschiks wie Mielke und Mittag überließ, reiste er am liebsten durch die Welt und warb für seine „Koalition der Vernunft“. Realitätsverlust und Halsstarrigkeit bestimmten die letzten Monate vor seiner Entmachtung im SED-Politbüro am 17. Oktober 1989. Leistungen und Fehlleistungen Honeckers - so erfährt der Leser - lassen sich nicht ausschließlich auf Charaktereigenschaften und auf ein antiquiertes Revolutions- und Sozialismusmodell zurückführen. Die existentielle Abhängigkeit vom „großen Bruder“ in Moskau - für Honecker eine heilige conditio sine qua non - ließ zu keiner Zeit Freiräume für Reformen, Erneuerungen und eigene Wege zu, wie die Schicksale mancher SED-Spitzenfunktionäre zeigten. Aus dem allgewaltigen Partei- und Staatschef, der den Personenkult liebte, war am Ende ein einsamer Mensch geworden, von seinen „engsten Kampfgenossen“ gemieden und von der Geschichte abgehängt.

Ein ausführlicher Anmerkungsapparat und ein umfangreiches Literaturverzeichnis zeugen von einer gründlichen Recherche des Autors in Archiven und von der Auswertung des schon vorliegenden Schrifttums. Zahlreiche Fotos, Faksimiles und in Kasten gesetzte Originaldokumente lockern die Lektüre auf.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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