Eine Rezension von Bernd Heimberger

Biographie eines Beschädigten

Edmund White: Proust
Aus dem Englischen von Monika Noll.
Claassen Verlag, München 2001, 197 Seiten

Liebend gern wäre er nichts anderes gewesen als Mamas kleiner Liebling. Im Grunde wollte er nur der Gehütete, Gehätschelte, Geliebte sein. Genaugenommen blieb er das ewige Kind: einundfünfzig Lebensjahre lang, mit der Statur eines Jugendlichen von einsfünfundsechzig. Marcel Proust, dessen Lebenszentrum Paris war, ist in seiner Kindheit und Jugend zu Hause gewesen. Proust war einer der begabtesten Selbstverliebten, selbstverliebtesten Begabten. Er konnte nicht von sich lassen. Auch, wenn er Abstand zu sich hielt. Das machte ihn zu einem Überlegenen. Sich selbst überlegen, unterlag er sich. Das machte alles so einfach und kompliziert für Marcel Proust. Der Schriftsteller stellte dies alles so eindeutig und vieldeutig heraus in seiner Literatur. Stets „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Das zu einer Zeit, in der das 20. Jahrhundert ein Tempo erreichte, dem keiner mehr folgen konnte. Marcel Proust hat sich angestrengt, zumindest in der Literatur, die Einheit von Lebenslauf und Zeitlauf nicht zu zerreißen. Im Zusammenhalten, Aufdecken und Verbergen war keiner kunstvoller als er. Balzac folgend, hat er die Menschliche Komödie fortgeschrieben, die vom Glanz und Elend des Adels und dem Ende einer Epoche erzählt. Proust hat das Ende geliebt und gelebt. Sich als Teil einer Endzeit zu sehen fiel ihm leichter als das Bekenntnis zu sich. Als getaufter Katholik distanzierte er sich vom mütterlich-jüdischen Erbe. Als ewiger Junggeselle kaschierte er im öffentlichen Leben seine Homosexualität, die er oft schmerzlich-intensiv lebte. Nicht nur in Schülertagen, in denen er unverhohlen seine erwiderte Zuneigung zum Sohn des Komponisten Bizet und dem des Schriftstellers Daudet zeigte. Marcel Proust bevorzugte dunkelhaarige, dunkeläugige junge Männer mit Schnauzbart – Spiegelbilder seines Äußeren. Die Linie seiner Liebeleien war nicht endlos. Schier endlos schienen die Folgen der Liebeleien für die weiblichen Hauptfiguren des siebenteiligen Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Grund genug für die Proust-Forscher und -Biographen, Modelle aus dem Proustschen Leben mit Figuren der Proustschen Literatur zu vergleichen. Auch Edmund White hat verglichen. Nicht, um eine weitere, erweiternde Vergleichsgeschichte zu verfassen. Whites schlicht Proust genanntes Buch berichtet mit gebotener Selbstverständlichkeit vom schwulen Leben des Marcel Proust. Der Biograph beherrscht sein Metier, indem er dem Schriftsteller als Schriftsteller begegnet, den er ungehemmt bewundert. Indem er als Schwuler einem Schwulen begegnet, den er achtet und bedauert. Indem er als Biograph Bewunderung und Bedauern in Einklang bringt, um jene knappe, unsentimentale Proust-Biographie zu schreiben, die das Verbergen im verborgenen Leben des Marcel Proust nicht verurteilt. Edmund White hat, wie schon seine furiose Genet-Biographie bewies, ein Gespür für Menschen seiner Zunft. Er hat Sinn für beschädigte Biographien, die er behutsam darstellt, um sie nicht ein weiteres Mal zu beschädigen. Proust ist, wie Whites Genet, eine Biographie der literarischen Form. Der Schwung des Erzählerischen wird stabilisiert durch das Essayistische. Mit seinem Porträt hat sich Edmund White seine Verwandtschaft zu Proust erschrieben. Vermutlich würde sich Marcel Proust die Verwandtschaft mit Edmund White gern gefallen lassen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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