Eine Rezension von Gisela Reller

Ein Denkmal. Und was für eines ...

Jerome Charyn: Die dunkle Schöne aus Weißrußland
Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld.
Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 130 S.

Das hätte auch ein ganz anderes Buch werden können: eines von einem verängstigten, einsamen kleinen Jungen, der von seiner schönen Mutter vernachlässigt wird ...

Die schöne Mutter ist die tatarische Jüdin Fanny – von ihren Freunden Faigele (tatarisch: Vögelchen) genannt –, die es in den zwanziger Jahren aus Weißrußland nach New York verschlagen hat. Und der kleine Junge mit dem ungeliebten Spitznamen Baby Charyn ist der Autor selbst. Manche kennen Jerome Charyn vielleicht als Autor der Isaac-Sidel-Krimis. Nun hat er ein Buch über seine „Mam“ geschrieben, die er sehr liebte. Es ist das erste Mal, daß Charyn über seine Kindheit erzählt, die er in der New Yorker Bronx verlebte. „Solange meine Mutter noch lebte, hätte ich dieses Buch nicht schreiben können“, gesteht er in einem Begleittext zum Buch. „Es machte mich traurig, daß sie nie richtig zur Schule gegangen war, daß ihr nicht die Wörter zur Verfügung standen, die sie gebraucht hätte, um ihre außergewöhnliche Intelligenz zu zeigen.“ In New York hatte Faigele den Sergeanten Sam geheiratet, der die dunkle Schöne aus Weißrußland jedoch nie so recht gewinnen konnte. Sie kochte für ihn, schlief mit ihm im selben Bett ein, „doch ihr Geist schien meilenweit von Sergeant Sam entfernt“. Deshalb sind immer Freunde um Faigele – zuständig „für die Lücken“. 1937 wird Jerome geboren. 1942, als er fünf Jahre alt ist, beginnt die Geschichte mit dem Satz: „Wenn wir auf die Straße gingen, ein Wunderknabe in kurzen Hosen und seine Mutter, die so herausfordernd schön war, daß alles Treiben zum Erliegen kam, betraten wir eine Zeitlupenwelt, in der Frauen, Männer, Kinder, Hunde, Katzen und Feuerwehrleute in ihren Autos sie mit einer solchen Sehnsucht in den Augen ansahen, daß ich mir vorkam wie ein Usurpator, der sie auf einen andren Hügel verschleppte.“

Der Leser merkt bald schon, daß in diesem autobiographischen Buch von schwierigen Verhältnissen erzählt wird: Der melancholische, verbitterte Vater Sam ist in einer Pelzfabrik tätig (die die Navy beliefert, weshalb er nicht an die Front muß). Die Mutter kommt oft weit nach Mitternacht heim, weil sie – grell geschminkt und sektlaunig – im Pokerklub als Kartengeberin arbeitet. Die Männer, die ihr da zu Füßen liegen, sind die Gangsterbosse der Bronx. Mit Mord und Totschlag haben sie den schwarzen Markt unter sich aufgeteilt und beherrschen die Polizei. Und sie sind eine wichtige Stütze für Roosevelt, dem sie – auch mit Gewalt – Stimmen verschaffen. „Sie war keine Heldin, die sich die Maske weiblicher Tugenden aufsetzte, die bescheiden war, zerbrechlich, stumm“, schreibt Charyn zu seinem Buch. Sondern? „Sie war ein Held, so raubgierig wie die Männer um sie herum ...“ Raubgierig ist sie und voller Mitgefühl, egozentrisch und aufopferungsvoll, gutmütig und nachtragend, sie konnte lächeln „wie ein hinreißender Schakal“. Bestaunenswert, wie sie sich widersetzt, die schöne Geschäftsführerin der Demokraten von Bronx Country zu werden, wie sie den Kantor vor der Synagoge ohrfeigt – „ist Wüstling und Lustmolch“ –, wie sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln einer Bekannten hilft, mit ihrer Kinderschar in der dienstlichen Souterrainwohnung bleiben zu können, wie sie kriegsgefangene Italiener zwischen die Augen küßt, jeden einzelnen, deren Leid verinnerlichend.

Jerome Charyn – er lebt in Paris und New York - schrieb Romane, Essays, Kinderbücher; mit diesem „schmerzhaftesten Buch, das ich je geschrieben habe“, hat er seiner schönen Mutter, die sich keinerlei fremde Regeln zu eigen gemacht hat, ein Denkmal gesetzt. Und was für eines ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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